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Dr. Siegfried Schröer
Die Abschaffung des ewigen Lebens – und die Folgen
Vorbemerkung
„Der Glaube kann Berge versetzen.“ Dieses auf ein Jesus-Wort in Mt 17,19 zurückgehende geflügelte Bildwort wird eindrucksvoll durch „Monumente der Ewigkeit“ wie die ägyptischen Pyramiden und die christlichen Kathedralen demonstriert. Dieses Wort meint u.a. auch: Unser Glaube bestimmt maßgeblich unser Verhalten und unser Handeln – individuell und kollektiv. Glaube sei hier verstanden als die Summe unserer Überzeugungen, Einstellungen zum Leben und Vorstellungen vom Leben. Zu bedenken ist dabei, dass Glaube (bzw. glauben) eine doppelte Bedeutung hat. Zum einen ist damit das „Für-wahr-Halten“ gemeint (ich glaube, nehme an, d a s s etwas so und so ist; gemeint ist also der Inhalt des Glaubens, das Geglaubte – lat. „fides quae“); zum anderen ist das Vertrauen gemeint, das ich in oder auf jemanden setze (ich glaube a n , verlasse mich auf jemanden; gemeint ist also der Akt des Glaubens und sein Adressat – lat. „fides qua“) Um dieses Vertrauen geht es zunächst auch im christlichen „Credo“ („Credo i n unum Deum“, … et i n unum dominum Jesum Christum, … et i n Spiritum sanctum“), bevor das G e g l a u b t e artikuliert wird. Das Wort „credere“ bedeutet etymologisch „sein Herz geben“ (aus „cor“ und „dare“), sich anvertrauen. Luther schreibt in seinem kleinen Katechismus: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Interessanterweise kommt ein zentraler begriff der Geldwirtschaft, nämlich „Credit“ von credere. Und noch bemerkenswerter ist, dass in der Finanzkrise 2008 kaum ein anderes Wort so sehr strapaziert wurde wie „Vertrauen“, während ebenso häufig der Satz zu hören ist: „Wir wissen es nicht.“ („Wann und ob überhaupt die Konjunkturpakete wirksam werden.“ – „Wir wussten auch nicht, dass die Immobilienblase eines Tages platzen würde, hätten es eigentlich aber wissen müssen.“) Anders als wir gern wahrhaben wollen, lassen wir uns mehr von unserem Glauben als von unserem Wissen leiten und bestimmen. Was immer auch Inhalt unseres Glaubens ist, sei es im Sinne eines Gottglaubens oder im Sinne eines (atheistischen) Weltglaubens, nicht das faktisch Gegebene, das unserem Wissen ja weitgehend entzogen ist, bestimmt unser Handeln, sondern unsere Vorstellung vom Gegebenen. (vgl. Kant: „Das ‚Ding an sich’ entzieht sich unserer Erkenntnis.“). Neue Erkenntnisse im Sinne von Wissen werden (zunächst) in unsere Vor-Einstellungen integriert, bevor wir diese in einem oft schmerzlichen Prozess ggf. zu revidieren bereit sind. So gesehen, glaubt jeder Mensch und gibt es keinen Unglauben. Die Frage ist lediglich: Was und a n wen oder was glaube ich. (Vgl. dazu den Artikel „Von der Abschaffung der Zeit durch den ewigen Raum“ von Ulf von Rauchhaupt, FAZ vom 28.02.2009, in dem es heißt: „Wer wissen will, muss immer auch glauben – sogar als Physiker.“ Der Artikel, eine Rezension des Buches „Der Quantenkosmos“ von Claus Kiefer, beginnt mit einem Einstein-Zitat: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.“ In dem Artikel heißt es dann: „Auch das Wissen der Physiker ist immer noch Stückwerk“ – ein Satz, der sich hier auf die bisher vergebliche Suche nach der Weltformel bezieht – die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie konnten bisher nicht unter einen (mathematischen) Hut gebracht werden - ein Satz, der aber auch an das Paulus-Wort in 1. Kor 13,9 erinnert: „Stückwerk ist unser Erkennen.“)
In besonders treffender Weise hat dieses Verständnis von Glaube (und Wissen) der Philosoph Friedrich Jacobi, ein Freund und Zeitgenosse Goethes auf den Punkt gebracht: „Wir sind tagtäglich … stets auf das verwiesen, was wir glaubend empfangen. Der Glaube ist das Primäre. Da wir selbst so wenig wissen, müssen wir an das Wissen der anderen glauben. In der Regel sind wir glaubende Mitwisser. Sogar an das eigene Wissen müssen wir glauben, andernfalls hat es keine lebensbestimmende Kraft. Wissen, das nicht mit der Glaubenskraft verbunden ist, bleibt blass, verschwindet schnell und wird vergessen. Der Glaube ist etwas grundlegend Vitales. Mann kann darauf nicht verzichten, selbst im Wissen nicht, und noch viel weniger bei den sonstigen Lebensvollzügen. Jacobi geht gegen das große Missverständnis an, der Glaube spiele nur im Religiösen eine Rolle, also im Verhältnis zu Gott. In jeder personalen Beziehung wirkt Glaube. Nicht nur auf das ganz Andere, also Gott, sind wir im Glauben bezogen, sondern auch dem gewöhnlichen Anderen, dem Mitmenschen können wir angemessen nur im Glauben begegnen. Wir nennen es Vertrauen.“ (Rüdiger Safranski: Goethe, Kunstwerk des Lebens, S. 296)Das Gesagte gilt auch für unsere Vorstellung vom Leben – und vom Tod.
1. Teil: Annäherung an unsere heutige gesellschaftliche Situation
Die jahrtausende alte Vorstellung vom ewigen Leben, wie sie im christlichen Glaubensbekenntnis artikuliert wird und in anderer Form fester Bestandteil auch anderer großer Kulturen wie die der alten Ägypter, der Etrusker, der Tibeter und der Moslems ist, verliert in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung, ja sie ist uns schon weitgehend abhanden gekommen. Dass bei entsprechenden Befragungen sich noch eine statistische Mehrheit zum Glauben an ein wie auch immer geartetes Weiterleben nach dem Tod (u.a. in Form der Wiedergeburt) bekennt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der „mainstream“ / der Trend in eine andere Richtung geht. (Im Folgenden ist dieser „mainstream“ gemeint, wenn ich vereinfachend „wir“ sage. Natürlich kann jeder sein „Ich nicht“ dagegen setzen.) Meine These lautet also: Wir haben die christliche Vorstellung vom ewigen Leben weitgehend abgeschafft, und das hat gravierende Folgen.
Wir leben in einer Gesellschaft, die mehr und mehr „säkular“ denkt – und die Zahl der so Denkenden – nicht zuletzt auch bei den Meinungsmachern in den Medien – wächst. Der Begriff „säkular“ (von lat. saeculum = Zeitalter, Jahrhundert) bezeichnet seit der „Säkularisation“ um 1800 die reine Innerweltlichkeit, eine Welt ohne Transzendenz- und Jenseitsvorstellungen. In diesem Denken hat der Glaube an ein „ewiges Leben“ keinen Platz mehr. Im großen christlichen Glaubensbekenntnis lautet der letzte Satz: „Et exspecto resurrectionem mortuorum et vitam venturi saeculi“. (Ich erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben des kommenden Zeitalters). Wir halten es heute mit Hanno Buddenbrook in dem bekannten Roman von Thomas Mann. Hanno antwortet seinem Vater „Ich dachte, es kommt nichts mehr“, als er in der Familienchronik einen dicken Strich unter seinem Namen gezogen hat und sein Vater ihn deshalb zur Rede stellt. Während der Christ immer, auch im Angesicht des Todes, noch von der Erwartung des Kommenden lebt bzw. die Hoffnung auf das Kommende hat, denkt der moderne Mensch: „Es kommt nichts mehr.“ Es gibt demnach nur dieses innerweltliche Leben, nur dieses eine konkrete, unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Leben, das Leben „vor dem Tod“; nennen wir es das „irdische Leben“ (von Erde abgeleitet), und mit dem Tod ist alles aus. Der Wiener Theologe und Religionssoziologe Prof. Dr. Paul Michael Zulehner charakterisiert diesen Bewusstseinswandel mit der mokanten Bemerkung: „Früher lebten die Menschen sechzig Jahre und eine ganze Ewigkeit. Heute leben sie nur noch neunzig Jahre.“ Der Theologe Dr. Gotthard Fuchs beschreibt die sich daraus ergebende Konsequenz: „Wo der Glaube an das ewige Leben verloren ging, mussten die Menschen hektisch und panisch werden: die Angst, ins Nichts zu fallen, tauchte auf. Das Leben hier und jetzt wurde zur letzten Gelegenheit.“ („Mit Gott kannst du nichts versäumen. Vom Umgang mit der Zeit“, Hünfelden 2008)
Diesem irdischen Leben wird deshalb nun der höchste Wert beigemessen; ihm wird alles abverlangt, und man muss alles herausholen, was es hergibt; deshalb ist es gang und gäbe, den Tod (jedenfalls den eigenen) aus dem Denken zu verdrängen und zu versuchen, ihm mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst lange zu entgehen, also möglichst lange zu leben. Gerhard Szczesny, der Gründer der Humanistischen Union, schrieb vor Jahren in einem Artikel „Wir wissen nicht, dass wir sterben müssen.“ Gemeint war natürlich: Wir wollen es nicht wissen bzw. nicht wahrhaben. (Vielleicht bekommen wir aber bald, was wir gerne hätten: Eine spanische Biologin glaubt inzwischen jenes Gen gefunden zu haben, das für den Alterungsprozess zuständig ist und demnächst „abgeschaltet“ werden kann.) Diese Einstellung zum Leben und zum Tod hat inzwischen quasi religiöse, nämlich kultische, Formen angenommen und bildet den Nährboden für ausgefallene Lebensformen und Handlungsweisen, die unsere Gesellschaft nachhaltig prägen, ohne dass wir uns darüber Gedanken machen, dass wir das Leben damit hoffnungslos überfordern; ich meine damit den Jugendkult und den Körperkult.
2. Teil: Folgeerscheinungen
1. Jugendkult
Dieser mitunter wahnhafte Züge annehmende Kult zeigt sich in zweifacher Hinsicht: im Verlangen nach „ewiger Jugend“ und in der Dominanz der jungen Generation.
1.1 Wir wollen jung bleiben bis ins hohe Alter, am besten bis zum Tod, wenn er schon nicht vermeidbar ist. Nicht genug damit; es soll obendrein ein möglichst schmerzfreies, glückliches, von Gesundheit und Schönheit geprägtes Leben sein, das man bis zum letzten Atemzug genießen und auskosten kann. Man kann auch sagen: Wir möchten möglichst alt werden, ohne alt zu werden: alt werden, aber jung bleiben Diese Überforderung des Lebens strapaziert einerseits unser Gesundheitswesen immer mehr (vor allem die Kassen, in die wir aber nicht m e h r einzahlen wollen als bisher – eher weniger), andererseits bekommen sie die Mediziner unmittelbar zu spüren, die sich mit hochgespannten Erwartungen konfrontiert sehen und von denen wahre Wunder erwartet werden. „Anti-Aging“-Programme lassen sich gut verkaufen. Die Altersforscherin Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey antwortet demgegenüber auf die Frage, was sie von der Anti-Aging-Medizin halte, lapidar: „nichts“ und plädiert für ein „Pro-Aging-Programm“, d.h. das Alter anzunehmen und auch seine ureigenen Möglichkeiten zu erkennen und wahrzunehmen.
1.2 Der Jugendkult zeigt sich aber auch in anderer Hinsicht: Wir Alten halten es mit den Jungen. Wir wetteifern mit den Jungen um das Jungsein und übernehmen ihre Lebensgewohnheiten. Früher galt das Sprichwort „Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen.“ Es hat heute seinen Sinn verloren. Heute zwitschern die Alten wie die Jungen. Denn die Jungen haben das Sagen. Die Weisheit des Alters ist nicht mehr gefragt. Ob es um Mode und Musik, Unterhaltung und Freizeitgestaltung geht: Die Jugend gibt den Ton an: Die Alten kleiden sich wie die Jungen und setzen sich widerspruchslos dem Gedröhn der Musikmaschinen aus, mit denen öffentliche Räume oder bei Rockbandkonzerten ganze Stadtteile beschallt werden. (Slogan auf einem Plakat: „Wenn es dir zu laut ist, bist du zu alt.“) Zu beobachten ist auch eine verbreitete Weigerung, erwachsen werden zu wollen (vgl. die Nesthocker im „Hotel Mama“). Denn Erwachsensein heißt Verantwortung übernehmen und verzichten können zugunsten anderer, heißt aber auch, sich den Härten und Ungereimtheiten des Lebens zu stellen, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren.
2. Körperkult
Er hat vor allem zwei Formen angenommen: Den Körper als Kultgegenstand zu behandeln und die Sexualität auf ihre körperliche Dimension zu reduzieren.
2.1 Der Körper wird gestylt, gepierct und tätowiert, er wird modelliert gemäß unserem Schönheitsideal. Besonders der weibliche Körper - natürlich mit den Idealmaßen – wird geradezu zum Götzen gemacht oder zum Gebrauchsgegenstand gemacht (in der Werbung und der Sex-Industrie). Die körperliche Erscheinung und das körperliche Wohlbefinden gehen über alles. In ihrem neuen Roman „Corpus Delicti“ stellt die Schriftstellerin (und Juristin) Juli Zeh eine Gesellschaft vor, die unsere sein könnte, in der sich statt um das Seelenheil alles um das physische Wohlergehen dreht: „Der Körper ist uns Tempel und Altar, Götze und Opfer, heilig gesprochen und versklavt.“ Models setzen die Maßstäbe, und jede(r) möchte die Schönste, der Schönste sein. Davon profitieren die Kosmetik- und die Wellnesindustrie und die Schönheitschirurgie. Neu ist das nicht, aber es wird heute bis zum Exzess betrieben.
2.2 Der Sexus wird zu einem Mittel der körperlichen Lustempfindung degradiert und vom Eros (und von der Fortpflanzung sowieso!) abgekoppelt; er verselbständigt sich zu einem rein körperlichen Befriedigungsvorgang (wie essen, trinken und ausscheiden). Der Orgasmus wird zur Glückserfahrung schlechthin hochstilisiert; die Beherrschung bzw. Kultivierung des Triebes wird als antiquiert angesehen. Auch davon profitiert ein Wirtschaftszweig: die Pornoindustrie. Immer mehr (vor allem junge) Menschen werden dazu verführt, „Sex“ wie eine Droge zu konsumieren und Sexualität nicht mehr als Ausdruck gegenseitiger Liebe und als Grundlage für die Weitergabe des Lebens anzusehen. Eine sexuelle Verwahrlosung immer breiterer Bevölkerungsschichten greift um sich – nachzulesen etwa in dem Artikel „Sex im Quadrat“ von Astrid Friesen in der Ausgabe 11/2008 der Zeitschrift „MUT“ und dem Buch „Deutschlands sexuelle Tragödie – Warum Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“ von Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher.
Das Erschütternste an diesem Bericht über Deutschlands sexuelle Tragödie ist, dass die darin vorgestellten (jungen) Menschen nicht mehr an die Liebe glauben, auch wenn sie sich im tiefsten Inneren (unausgesprochen) danach sehnen. Überraschend ist das nicht, wenn man den Zynismus einer orientierungslos gewordenen Erwachsenenwelt betrachtet, in der hemmungslos Geschäfte mit jungen Menschen unter Ausnutzung der menschlichen Triebhaftigkeit gemacht werden, einer Gesellschaft, die den „äußeren Verhältnissen verfallen ist“, was Theodor Adorno einmal als die schlimmste Krankheit unserer Zeit bezeichnet hat.
Vergötzen wir unseren Körper, weil wir unsere Seelen verloren haben oder in Gefahr sind, sie zu verlieren??
3. Teil: Das „ewige Leben“ aus christlicher Sicht heute
Wie aber geht die heutige christliche Theologie mit dem ewigen Leben um? Welche Orientierungshilfe für das Leben kann sie uns geben?
Hören wir zunächst dazu die Stimme eines bekannten Theologen, nämlich Bischof Dr. Franz Kamphaus:
„Wir sprechen vom „Leben nach dem Tod“, wohl wissend, dass es ein zeitliches Nachher nicht gibt. Was wiederum nicht heißt, es gäbe kein ewiges Leben. Nur folgt es dem irdischen Leben nicht nach. Die Toten kehren weder in das irdische Leben zurück, noch setzen sie es nach dem Tod auf mysteriöse Weise fort. Das irdische Leben endet mit dem Tod.
Ewiges Leben heißt nicht, dass es endlos so weitergeht wie jetzt, es meint nicht eine Verjenseitigung des Vorhandenen. So stellen es sich diejenigen vor, die schon in diesem Leben alles haben und trotzdem nicht genug bekommen; die das, was sie heben, für immer haben wollen. Anderes fällt ihnen nicht ein als ihre private Seligkeit. Christen jedoch lassen sich damit nicht abspeisen. Sie hoffen auf ein Glück, das nicht mit dem Unglück anderer bezahlt wird, auf eine Lust, die nicht Privatvergnügen oder Gruppenprivileg bleibt, sondern alle erfasst. Alle werden zu ihrem Recht kommen und Frieden finden. …
Wir sind auf Beziehung angelegt und angewiesen. Diese Beziehung bedarf der sinnlich-körperlichen Vermittlung. Wir leben nicht vom Austausch unserer Seelen oder reiner Geister, sondern von der Kommunikation mit anderen Menschen und Mitgeschöpfen aus Fleisch und Blut. Wo der Körper Medium der Gemeinschaftsbildung ist, spricht die Theologie vom Leib. Menschen, deren Körper gleichsam transparent ist für das Gute und Wahre in ihnen, rufen bei anderen das Empfinden hervor, von innen zu strahlen. Dieser Glanz verleiht ihnen eine Schönheit, die unabhängig ist von ihrem Aussehen. Darin liegt der Vorgeschmack einer Existenzform, in der das Körperliche alles Hindernde und Trennende verliert und verwandelt ist in den Ausdruck reiner Selbstmitteilung. Das ist ewiges Leben: Der Mensch erreicht ein Höchstmaß an Lebendigkeit, indem er mit allen und allem in Beziehung lebt. Die ganze Menschheit, die ganze Welt hat Platz in dieser Hoffnung.
(FAZ vom 11.11.2004)
Der Christ bzw. ein Mensch, der sich Jesus Christus verpflichtet weiß und ihm nachfolgen möchte, relativiert den Wert dieses konkreten irdischen Lebens, indem er dem Tod ins Antlitz schaut und in dem Bewusstsein lebt, dass er sterben muss. In liturgischer Ausdrücklichkeit wird der katholische Christ am Aschermittwoch jeden Jahres an seine eigene Vergänglichkeit erinnert. Beim Auflegen des Aschenkreuzes hört er die Mahnung: „Gedenke, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehrst.“ Diese Einstellung hat unsere christliche Kultur 2000 Jahre lang geprägt. Dafür möchte ich ein beeindruckendes Beispiel zitieren. In einem Brief an seinen kranken Vater schreibt der 31-jährige Wolfgang Amadeus Mozart: „Da der Tod, genau zu nehmen, der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern sehr viel Beruhigendes und Tröstendes, und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen. – Ich lege mich nie zu Bette ohne zu bedenken, dass ich vielleicht, so jung als ich bin, den andern Tag nicht mehr sein werde – und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre. Und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie vom Herzen jeden meiner Mitmenschen.“
In anderer Weise kommt das Leben in den Blick, wenn man den Menschen als sittlich verantwortliches Wesen betrachtet, wie es etwa Friedrich von Schiller versteht, wenn er den Chor am Ende seines Dramas „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“ sprechen lässt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht. Der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Hier wird eine andere, über das Leben selbst hinausweisende Dimension sichtbar, die geistig-moralische. Und in dieser geht es wesentlich um die Frage, wie der Mensch mit seiner Schuld fertig wird. In Schillers Drama tötet sich der eine der beiden Brüder selbst, um seine Schuld zu sühnen, nachdem er in rasender Eifersucht seinen Bruder umgebracht hat. Was beide Brüder nicht wissen konnten: Die von beiden geliebte Frau ist ihre Schwester, die von der Mutter im Geheimen zur Welt gebracht und aufgezogen worden ist, nachdem der Vater eine Traumvision gehabt hatte, in der eine Tochter Unheil über die Familie bringt, und sie deshalb hatte aussetzen lassen. Das Schiller-Wort, mit dem der Chor die Tragödie der feindlichen Brüder kommentiert, weist also dem Opfer des Lebens bzw. dem Tod einen höheren Wert zu als dem Leben selbst.
Die „norma normans“ der christlichen Kultur, die Bibel, eröffnet uns diese tiefere Perspektive auf das Leben: Jesus vergleicht es mit einem Weizenkorn: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, der wird es bewahren (bis) ins ewige Leben.“ (Joh 12,24)
Und ein anderes Jesus-Wort zielt in dieselbe Richtung: “Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen und um des Evangeliums verliert, der wird es gewinnen.“ ( Mk 8,35 und Lk 9,24) Das Leben als solches wird demnach von Jesus nicht als höchster Wert angesehen, sondern in Beziehung gesetzt zur Zielsetzung seines eigenen Lebens: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben, und es in Fülle haben.“ (Joh. 10,10) Dieses „Leben in Fülle“ aber meint göttliches Leben, auch „ewiges Leben“ genannt, und das bedeutet Teilhabe an der Gottesherrschaft, der Macht des (göttlichen) Geistes und das heißt an der göttlichen Liebe. Sehr treffend wird diese Zielsetzung in einem dem hl. Franz von Assisi zugeschriebenen, aber wohl erst 1913 in Frankreich entstandenen Gebet formuliert: „Herr, lass mich trachten, nicht dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe. Denn wer sich hingibt, der empfängt; wer sich selbst vergisst, der findet; wer verzeiht, dem wird verziehen; und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.“ Gemeint ist also kein zweites Leben, sondern dieses eine Leben in seinen tieferen Dimensionen; nicht die Länge auf dem Zeitstrahl, sondern die Tiefe macht das „ewige Leben“ aus.
Was ist damit nun näherhin gemeint?
1. “Ewig“ ist zunächst eine Bezeichnung für Gott und meint damit jene absolute Macht, die unabhängig von Raum und Zeit die Bedingung dafür ist, dass überhaupt etwas in Raum und Zeit existiert: den Schöpfer; den „Ewigen“, wie er nach jüdischer Tradition auch genannt und in dem von Beethoven vertonten Gedicht von Gellert gerühmt wird: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre.“ Da wir aber nicht raum- und zeitlos denken können, verwenden wir auch die Zeitmetapher „unendlich“, wenn wir „ewig“ meinen; „ewig“ ist aber kein Zeitbegriff im Sinne des Zeit- bzw. Zahlenstrahls, sondern ein Seinsbegriff, ein anderes Wort für das unaussprechliche absolute Sein, das wir stammelnd Gott (oder Allah, El oder Jahwe) nennen
2. „Ewiges Leben“ heißt dann für uns: Unser Leben hat dann einen „unendlichen“ oder höchsten Wert, wenn das in ihm angelegte unzerstörbare Potential durch den Glauben an Gott (d.h. die Teilhabe am göttlichen Leben) zum Leben erweckt wird, aufersteht – und zwar schon hier und jetzt (!), wenn es auch noch nicht vollendet und noch unvollkommen ist. Dazu noch einmal Franz Kamphaus: „’Ewiges Leben’ meint ein Leben in der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott. Leben und Tod sind, theologisch gesprochen, Situationen unterschiedlicher Gottesbeziehung. Sofern der Mensch sich in seinem Leben auf Gott einlässt, beginnt für ihn das ewige Leben. Und umgekehrt: Sofern ein Mensch sich in seinem Leben Gottes Liebe gegenüber verschließt, hat der Tod Macht über ihn. Deswegen spricht Paulus vom Tod als dem „Sold der Sünde“. Er denkt dabei an eine vom Menschen selbst bedingte Beziehungsunfähigkeit, die ihn vom Ursprung des Lebens abschneidet. Das ist die Hölle.“
3. Der Schlüssel zu diesem „ewigen“, unzerstörbaren Leben ist also die Liebe, wie der 1. Johannesbrief in besonders ausdrücklicher Weise bezeugt: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder (und Schwestern) lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod ... Denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott... Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet. Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns bleibt: Er hat uns seinen Geist gegeben.“ (1 Joh 3,14; 4,7.12-13)
In und mit diesem Geist können Menschen getrost und vertrauend ihr Leben in die Hand des Schöpfers zurückgeben, und das umso mehr, je mehr sie Spuren der Liebe hinterlassen und ihren Beitrag zum „Reich Gottes“, zum Reich der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit erbracht haben, wenn man so will: ihren bescheidenen Beitrag zur – weltlich gesprochen – „kulturellen Evolution“.
Dieses Vertrauen wird in folgenden drei Worten aus der Bibel besonders eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht:
1. „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an; ja, spricht der Geist, sie sollen ausruhen von ihren Mühen, denn ihre Werke begleiten sie (folgen ihnen nach – wie Luther übersetzt).“ (Apk 14,13) 2. „Ich bin davon überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zur der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. … Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld.“ (Röm 8,18.24.25) 3. „Wir verkündigen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ (1 Kor 2,9)
An das ewige Leben glauben heißt also: an Gott glauben, überzeugt sein, dass „Gott“ nicht eine „Projektion unserer Wunschvorstellungen“ (Feuerbach) ist, sondern ein (wenn auch unzulängliches) Wort für den Urgrund allen Seins, der fortwährend in allem Sein wirkt; heißt dann aber vor allem: sich ihm anvertrauen, ihm vertrauen auch im Angesicht des Todes. Was dann mit und aus uns wird, ist nicht mehr unsere Sache. Wir wissen es nicht, dürfen aber hoffen, dass wir bei ihm „geborgen“, „zu Hause“, „im Himmel“ sind.
Für dieses Gottvertrauen möchte ich abschließend noch zwei Beispiele aus der deutschen Literatur- bzw. Geistesgeschichte anführen:
Johann Wolfgang von Goethe schreibt über seinen Freund aus der Straßburger Zeit, den späteren berühmten Augenarzt Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling: „Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an seine von daher fließende Hilfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätige.“ (Nachzulesen bei Rüdiger Safranski („Goethe – Kunstwerk des Lebens“). Nach Safranski war Jung-Stilling für Goethe ein Beispiel dafür, dass Gottvertrauen die eigenen Kräfte mobilisieren kann und insofern eine höhere Art des Selbstvertrauens darstellt, weil es sich dabei eben nicht nur um das empirische Selbst, sondern um ein höheres, gesteigertes Selbst handelt, das sich in Gott aufgehoben fühlt (S. 88).
Der zeitgenössische Schriftsteller und Romanautor Hanns-Josef Ortheil sieht in seinem Glauben einen wichtigen Rettungsanker, der ihm geholfen hat, mit seinem krankheitsbedingten Scheitern als Pianist fertig zu werden. (Vgl. seinen Roman „Die Erfindung des Lebens“) Er sagt von sich: „Der Glaube war einfach von frühester Kindheit da und bot einen enormen Rückhalt. Indem der Mensch glaubt, befreit er sich von der schmalen Enge des Lebens.“
Also: Der Glaube als Gottvertrauen kann Berge versetzten – nicht nur Berge aus Stein.
Dr. Siegfried Schröer
www.schroeer-ebe.de/Dreifaltigkeit
Den Glauben an den dreifaltigen Gott leben – Wie kann das gehen?
In einer Zeit, in der wir mit einem sich ausbreitenden Atheismus einerseits und einem den strikten Monotheismus betonenden Islam konfrontiert sind, ist unser Glaube an den dreifaltigen Gott mehr denn je herausgefordert. Wie können wir diesen Glauben verstehen[1] und – was noch wichtiger ist – wie können wir ihn überzeugend leben?
Zunächst einige grundsätzliche Vorbemerkungen:
1. Unser Denken, unsere Vorstellungen und unser Sprechen stehen unter dem Vorbehalt einer prinzipiellen Begrenztheit. Nach Immanuel Kant können wir das „Ding an sich“ (das Wesen der Dinge) nicht erkennen und demnach auch nicht benennen. Wir können uns der Wirklichkeit immer nur annähern. Das gilt für die Welt (Natur, Kosmos), auch wenn viele Menschen das heute nicht wahrhaben wollen, weil sie dem Irrtum verfallen sind, die Wissenschaft könne uns endgültige, unumstößliche Erkenntnisse vermitteln, dieweil sie ihre Erkenntnisse immer wieder falsifizieren muss – so Raimund Popper, was sich z.B. an den Erkenntnissen Isaac Newtons und Albert Einsteins zeigen lässt[2] . Das gilt erst recht aber für Gott; alles Reden über – besser v o n ihm – ist letztlich ein hilfloses Gestammel, auch wenn die Theologie eine durchaus seriöse Wissenschaft ist, deren Aufgabe gerade darin besteht, das überlieferte Glaubensbekenntnis für die jeweilige Zeit verstehbar zu machen bzw. zu interpretieren. Wir müssen unsere Rede deshalb immer wieder korrigieren, jedoch ohne die uns überlieferten Wahrheitserkenntnisse, die sich bewährt („bewahrheitet“) haben, preiszugeben. Da aber das „Große Ganze“ und „Allumfassende“ – Gott – unserem Zugriff (auch „begrifflich“) immer entzogen bleibt, kann unsere Rede v o n ihm immer nur „metaphorisch“ sein (bildhaft, im übertragenen Sinn), wenn es um die Deutung der geschichtlichen Erfahrungen aus dem Glauben geht. Das lässt sich besonders gut am „Credo“ deutlich machen (z. B. Jesus von Nazareth – eine geschichtliche Person – wird als „Sohn“ des „Vaters“, „vom Himmel herabgestiegen“, geboren aus der „Jungfrau“ Maria, als Gekreuzigter „auferstanden“, „in den Himmel aufgestiegen“ gedeutet).
2. Unser Reden von Gott ist geschichtlich bedingt. Der uns überlieferte Glaube an Gott, das gilt in besonderer Weise für den Glauben an den dreifaltigen Gott, und die entsprechenden Gottesbilder sind in einem langen geschichtlichen Prozess gewachsen, haben sich entwickelt und sind nicht vom Himmel gefallen, auch wenn entsprechende Offenbarungserzählungen es nahe zu legen scheinen. Sie sind aber nachträgliche Deutungserzählungen, die geschichtliche Erfahrungen verdichten. Kurz gesagt: Gott offenbart sich uns in Geschichte. Diese Geschichte führt über eine lange Zeit des Animismus und Polytheismus schließlich in der sogenannten jüdischen Aufklärung zum Monotheismus (mit den Zwischenspiel durch Echnaton im 2. Jahrtausend vor Christus) und schließlich in der Jesus-Gemeinde zum Glauben an den dreifaltigen Gott. Die Erfahrungen der Menschheit mit der übermächtigen Natur spielen dabei eine konstituierende Rolle. (Die Religionswissenschaft spricht von der Erfahrung des Numinosen als „mysterium fascinosum et tremendum“-so Rudolf Otto.) Der Offenbarungsprozess führt aber dann über die vordergründige Natur-Erfahrung hinaus zur Tranzendenz-Erfahrung bzw. glaubend transzendieren (überschreiten) wir die Natur-Erfahrung. Beispiel: Die Genesis macht aus der in Ägypten als Gott verehrten Sonne ein Geschöpf, eine „Lampe“, die der Schöpfer-Gott an den Himmel „gehängt“ hat, damit sie den Menschen als Leuchte für den Tag diene.
Hauptteil
Wenn wir Zugänge zum Glauben an den dreifaltigen Gott suchen, bieten sich zwei Wege an: der eine führt über die christliche Tradition in der Form des großen Glaubensbekenntnisses, der andere über die Wahrnehmung und Reflexion unseres Lebens in dieser Welt.
I. Das große Glaubensbekenntnis („Nicaeno-Konstantinopolitanum“)
Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die in der Welt und in der Geschichte der Menschheit erfolgte Selbstoffenbarung des drei-einen Gottes in Jesus Christus – die Menschwerdung. Darin zeigt sich Gott auf dreifache Weise: Als Schöpfer, als Mittler, als in uns wohnender Heiliger Geist.
Das ist mit dem Begriff „trinitarisch“ gemeint: Einheit in der Dreiheit und Dreiheit in der Einheit.
1. Im ersten Artikel ist die Rede von „Himmel und Erde“. Damit sind der Kosmos und unser menschlicher Lebensraum bzw. die Natur benannt, die wir dann im Glauben Schöpfung nennen, deren Schöpfer wir als allmächtigen und liebenden Vater bekennen.
2. Im zweiten Artikel geht es um eine konkrete „Person“: Jesus von Nazareth und diesen in einer konkreten Situation der „Geschichte“, für die Pontius Pilatus steht. Diesen Jesus bekennen wir als den Christus als Mittelpunkt der Geschichte als Heilsgeschichte. In ihm zeigt sich Gott explizit als der zu uns Sprechende, der sich in seinem fleischgewordenen Wort selbst mitteilt. Wir können es das Christus-Ereignis nennen, wie es der Hebräer-Brief deutlich macht: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn., den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er die Welt erschaffen hat.“ ( Hebr 1,1-2).
3. Im dritten Artikel sprechen wir vom „Geist“, der „Gemeinschaft“ schafft. Ihn bekennen wir als den uns innewohnenden Heiligen Geist, d.h. als Geist Gottes, der die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen stiftet und zur Vollendung führt. Gott begegnet uns nicht nur durch sein Wort, er geht so in uns ein, dass wir an seinem Wesen teilhaben und damit zur Gemeinschaft befähigt werden.
4. Trotz dieser „Dreiheit“ hält das Glaubensbekenntnis strikt an der inneren „Einheit“ fest, die schon in der Wortwahl deutlich zum Ausdruck kommt, wenn wir das große Glaubensbekenntnis zugrunde legen.
Wenn im ersten Artikel vom Schöpfer die Rede ist, so heißt es im zweiten. „Durch ihn (den Sohn) ist alles geschaffen“ (vgl. Hebr 1,2.; s.o.). Und im dritten Artikel bekennen wir den Geist als „lebenspendend“, und im alten Hymnus bzw. Kirchenlied bitten wir: „Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein.“
Wenn im 1. Artikel vom Vater die Rede ist, so kommt darin zum Ausdruck, dass uns Gott immer schon wie ein Vater seinen Kindern zugewandt ist. Diese Zuwendung in seinem Sohn Jesus Christus ist dann zentraler Gegenstand des 2. Artikels, während im dritten ausdrücklich gesagt wird, dass der Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht, also die Einheit in besonderer Weise betont wird.
Wir halten also entschieden am Glauben an den „einen“ Gott fest, was für unser Gespräch mit Juden und Moslems von elementarer Bedeutung ist. Es sollte nicht einmal der Anschein aufkommen, dass wir Christen Polytheisten seien. Wir glauben an den einen Gott.
II. Unser Leben in dieser Welt
Diese Struktur finden wir bei genauem Hinschauen auch in der Welt, in der wir leben, wieder, so dass wir sagen können: auch die Welt hat eine trinitarische Struktur. Das lässt sich an drei fundamentalen Topoi aufzeigen.
Der einfachste Zugang zu dieser Struktur ist mit Hilfe von drei Prä-positionen möglich:
1. Um uns: Wir sind umgeben vom Kosmos bzw. der Natur.
Wir leben inmitten der Natur und sind zugleich ein Teil von ihr. Sie ist unsere Lebensgrundlage und schenkt uns, was wir zum Leben brauchen: die Luft zum Atmen, die Nahrung, die Materialien für Kleidung und Wohnung. Unser Körper besteht aus denselben Elementen wie sie. Die Natur hat allerdings auch bedrohliche Seiten. Aber uns ist der Verstand gegeben, uns davor zu schützen. Dazu müssen wir ihre Gesetze kennen und uns danach richten. Wir können die Natur auch in einem gewissen Umfang (um)gestalten, stoßen aber schnell an Grenzen, wenn wir nicht mit, sondern gegen sie handeln.
Dieser Dimension entspricht der Glaube an den Schöpfer-Gott.
2. Vor uns: Vor uns steht der Mitmensch als personales Gegenüber.
„Kein Mensch ist eine Insel“, und wir leben – ob wir wollen oder nicht – in Beziehungen. Selbst als Einsiedler kann man sich dem Beziehungsgeflecht, in das wir hineingeboren wurden, nicht entziehen.[3] Beziehung und Begegnung sind fundamentale Konstanten unserer Existenz. Sie zeigen sich schon in der gemeinsam organisierten Beschaffung und Sicherstellung der einfachsten Lebensgrundlagen und reichen bis zum geistigen Dialog auf höchster denkerischer Ebene. Sie gelten horizontal in der Zeitgenossenschaft und vertikal in der Generationenfolge, in der mündlichen Kommunikation von Person zu Person und in der medial vermittelten Kommunikation hier und heute und in der Überlieferung bzw. Tradition, ja im kollektiven Gedächtnis von Kulturen. Aber auch dafür bedürfen wir der entsprechenden Ausstattung, mit der uns die Natur versorgt bzw. die wir ihr abgewinnen oder sogar abringen.
Dieser Dimension entspricht der Glaube an den Mensch gewordenen Gottessohn, der uns als Bruder begegnet und die Beziehung zu Gott (wieder) herstellt.
3. In uns: In uns lebt die geistige Seite unseres Selbstseins / die Seele.
Jeder Mensch (vielleicht sogar jedes lebende Wesen) ist ein einmaliges, unverwechselbares Einzelnes, ein Individuum, ein Selbst, eine Person – unterschieden von allen anderen. Wenn einerseits unser Innenleben – unser Geist, unsere Seele – unseren Körper prägt („anima forma corporis – wie die scholastische Philosophie lehrt –)[4] , so gilt andererseits unser Körper als „Individuationsprinzip“ (vgl. unseren je eigenen genetischen Code bzw. unseren Fingerabdruck). Allen Leugnungen zum Trotz, dass wir überhaupt eine Geist-Seele haben[5] , lassen wir uns unser Eigenleben, unseren eigenen Willen, unseren eigenen Empfindungen, unsere eigene Biographie mit allen Erinnerungen, die nur wir haben, nicht ausreden. Wie könnten wir sonst „Ich“ sagen, wenn wir oft auch mit Faust klagen. „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ oder gar ein „Multi-Ich“ konstatieren[6]. Mit Emphase bringt das auch unser Grundgesetz zu Ausdruck: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und damit ist jeder einzelne Mensch in seiner Einmaligkeit gemeint. Gleichwohl ist dieses Eigenleben ohne Beziehung zum anderen und zu anderen, ohne die Einbettung in die Natur – auch der neuronalen Welt – nicht lebensfähig.
Dieser Dimension entspricht der Glaube an den Heiligen Geist, der in uns ausgegossen ist, in uns wohnt und zur Liebe und zur Gemeinschaft befähigt.
Nach Nikolaus von Cues (1401 – 1464) ist „die Schöpfung Bild und Spiegel des Schöpfers im Gegenwärtigen.“ Wenn die Welt, die Gott erschaffen hat und in die er sich selbst begeben hat, trinitarisch ist, kann er selbst eigentlich auch nur trinitarisch sein, was die Dogmatik in der Rede von den drei göttlichen Personen, die sie als „relationes subsistentes“ bezeichnet, zu fassen sucht. Damit ist gesagt, dass Gott schlechthin Beziehung ist, die nicht akzidentiell (wie in der geschaffenen Welt) sondern substantiell ist, und damit ist im Grunde nichts anderes gemeint als „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 1), die „Sonne, Mond und Sterne bewegt“ – als die alles beherrschende Macht (vgl. Dante: La Divina Commedia. Letzter Vers.).
Fazit: Wenn die Welt, die Natur, der Kosmos, die Schöpfung ein Abbild das Schöpfergottes ist, dann liegt es nahe, dass der sich uns trinitarisch präsentierenden Welt der trinitarische Gott entspricht: als Schöpfer und „Vater“, als „Sohn“ und erlösendes Wort, als uns innewohnender und Gemeinschaft stiftender Geist.
III. Schlussfolgerungen
In einem nächsten Schritt können wir näher beleuchten, welch fundamentale heilsame Bedeutung diese Dreifach-Struktur und ihre Implikationen für unser Leben haben.
Mit diesem Blick auf die Welt können wir einerseits die evolutionär[7] denkenden Wissenschaften von der Natur, von der Geschichte und vom Menschen als Person und Gemeinschaftswesen ernst nehmen und anerkennen und können auf der anderen Seite, wenn wir die sinnlich wahrnehmbare Welt transzendieren, den Glauben an den drei-einen Gott plausibler machen.
Nun tun wir uns allerdings außerordentlich schwer damit, diese trinitarische Struktur in ihrer Einheit in einem ausgewogenen Verhältnis zu leben, weil wir dazu neigen, immer eine Dimension einseitig zu betonen und die jeweils anderen beiden nicht hinreichend zu würdigen.
Die einseitige Ausrichtung auf die naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt führt dazu, dass wir die personal-dialogische und die geistig-seelische Existenz des Menschen nicht ernst nehmen und ihn auf ein Maschinen-Wesen reduzieren[8]. Andererseits führt die geistige Überhöhung des Menschen dazu, die Natur zu vernachlässigen und zum reinen Objekt zu degradieren, mit dem wir beliebig umgehen können, wie wir es in unserer von der Technik beherrschten Welt täglich praktizieren. Fatal ist auch, wenn der Mensch nur als „animal soziale“, oder gar als Produkt des „Ensembles der gesellschaftlichen – der wirtschaftlichen Verhältnisse“ (Karl Marx) – angesehen wird und die zwischenmenschlichen Beziehungen isoliert von der Natur und dem Innenleben des einzelnen betrachtet werden, wozu sozialistisches Denken neigt. Demgegenüber führt die Überbetonung des Individuums und der persönlichen Freiheit. wozu der Liberalismus neigt, zu einem Verfall der gesellschaftlichen Bindungen.
Der gelebte Glaube an den dreifaltig-einen Gott befähigt uns hingegen, die verschiedenen Dimensionen unseres Dasein in gespannter Einheit zu sehen und zu leben – in einem ausgewogenen Verhältnis.
Die Welt, in der wir leben, ist uns nicht einfach nur vor-gegeben, wir müssen sie auch deuten, um in ihr zurecht zu kommen. Die trinitarische Deutung legt uns das Glaubensbekenntnis nahe, sie lässt sich aber auch denkend und beobachtend gewinnen – wie oben gezeigt. Daraus ergibt sich auch, dass wir uns zu ihr in Beziehung setzen müssen. De facto tun wir das auch ständig, indem wir uns einerseits ein Bild (oder Bilder) von ihr machen und andererseits uns in bestimmten Weisen (mehr oder weniger reflektiert) zu ihr verhalten. Wenn wir sie als reines Objekt betrachten, gehen wir auch entsprechend mit ihr um, indem wir mit ihr machen, was wir wollen und was uns gerade nützlich erscheint. Wenn wir sie hingegen als unseren Lebensraum, in den wir integriert sind, betrachten, gehen wir sorgsam und pfleglich, d.h. verantwortungsbewusst, mit ihr um. Darin zeigt sich dann, welch „Geistes Kinder“ wir sind, zeigt sich unsere „Gesinnung“. Dann sind wir bei aller Differenz „eins“ mit ihr, dann ist auch unsere Menschheitsgeschichte mit all ihren Begegnungen eingebettet in die Naturgeschichte und gleich wohl von ihr unterschieden.
Entscheidend ist also, wie wir die für jeden Menschen in ihrer Dreifachstruktur offenkundige Welt aus dem Glauben deuten und wie wir diesen Glauben leben. Er muss sich zeigen in unserem Respekt und unserer Achtung vor der Natur, vor dem Mitmenschen und vor uns selbst bzw. unserer Seele – in einem ausgewogenen Verhältnis, oder anders gesagt: indem wir in gleicher Weise im Einklang sind mit der Natur, mit den Mitmenschen, mit uns selbst. Nicht gegen die Natur, sondern mit ihr und ihren Rhythmen leben (Tag und Nacht!), den Mitmenschen nicht als Rivalen, sondern als Bruder und Schwester, Kind desselben Vaters ansehen und annehmen; sich selbst wertschätzen, die eigene Würde bewahren und sich abgrenzen können gegenüber Zumutungen und überzogenen Erwartungen! So gelebter Glaube ist heilsam, eine Wohltat für Leib und Seele („wellness“ im umfassenden Sinn). Darin sollten wir Christen uns von niemand übertreffen lassen. So – nur so – können wir ein glaubwürdiges Zeugnis für den drei-einen Gott abgeben, der sich durch seine Selbstmitteilung radikal auf unsere Welt eingelassen hat. An der Art und Weise, wie er es getan hat bzw. tut, wie er sich selbst zu erkennen gibt, können wir ihn selbst - wenn auch bis zur Vollendung nur annäherungsweise – erkennen und bezeugen. „Dann werde ich ganz erkennen, wie ich ganz erkannt sein werde.“ (1 Kor 13,12)
Fazit
In einer Zeit der radikalen Gotteskrise müssen wir neu über Zugänge zum Glauben an den drei-einen Gott nachdenken. M.E. ist dieser Glaube d i e Möglichkeit, in einer säkularisierten und entdivinisierten Welt überhaupt noch an Gott zu glauben bzw. von Gott zu sprechen.
Andererseits ist dieses Nachdenken auch zwingend notwendig für den Dialog mit dem Judentum und dem Islam.
Wenn die Welt, die Gott erschaffen hat und in die er sich selbst begeben hat, trinitarisch ist, kann er selbst eigentlich auch nur trinitarisch sein, was die Dogmatik in der Rede von den drei göttlichen Personen, die sie als „relationes subsistentes“ bezeichnet, zu fassen sucht. Damit ist gesagt, dass Gott schlechthin Beziehung ist, die nicht akzidentiell (wie in der geschaffenen Welt) sondern substantiell ist, und damit ist im Grunde nichts anderes gemeint als „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 1), die „Sonne, Mond und Sterne bewegt“ – als die alles beherrschende Macht (vgl. Dante: La Divina Commedia. Letzter Vers.).
Wenn Friedrich Nietzsche, der vielleicht schärfste Kritiker des christlichen Glaubens, Zarathustra sprechen lässt: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu!“[9], dann könnten wir darauf mit folgendem Zitat antworten:
„Wenn wir dazu beitragen wollen, dass unsere Erde nicht zerstört, missbraucht, ausgebeutet und verwüstet wird, dann müssen wir sie lieben. Es ist seltsam, dass die Christen nicht immer zu den großen Liebhabern der Erde gehört haben, sondern dass sie als Weltflüchtige und gar als Weltverachtende erscheinen konnten. Nun geht es freilich nicht um eine naive Naturschwärmerei oder eine Vergöttlichung der Welt, sondern darum, diese unsere Welt als Gottes Schöpfung zu begreifen, als den Bereich, in dem Gottes Geist wirken will und in den wir hineingesetzt sind, um uns darin zu bewähren.[10] Zunächst aber sollen wir doch immer wieder ihre Schönheit erkennen und die geheimnisvolle Ordnung ahnen, in der sie existiert.“[11]
Das große Glaubensbekenntnis (Credo)
Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. | und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch Geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tag auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende Sein. | und an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, katholische Kirche. Ich bekenne die eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Ich erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. |
Paulus im 1. Korintherbrief:
Kap. 3 Vers 16:
"Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?"
Kap. 6 Vers 19 und 20
"Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt
und den ihr von Gott habt? Verherrlicht Gott in eurem Leib!"
Teresa von Avila (1515 - 1582), Kirchenlehrerin
"Tut eurem Leib Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen."
In ihrem Werk "Die Seelenburg" (Las moradas interiores) zitiert sie Paulus mit dem Vers 6,17
aus dem ersten Korintherbrief: "Wer sich dem Herrn nähert und an ihn sich hängt, der wird
ein Geist mit ihm."
Zwischen Islam und Atheismus - Versuch einer Standortbestimmung
- Annäherungen an den Glauben an den dreifaltigen Gott - / Kurzfassung
I: Kurze Beschreibung unserer gesellschaftlichen Situation
Wir haben es in unserer heutigen westeuropäischen Gesellschaft mit einem missionarisch auftretenden Islam (sowohl friedlich als auch aggressiv) einerseits und einem sich ausbreitenden Atheismus (sowohl reflektiert als auch unreflektiert) andererseits zu tun. Während Muslime sich für die einzig wahren Monotheisten halten („Es gibt keinen Gott außer Allah“), lehnen Atheisten einen wie auch immer gearteten Glauben an Gott ab („Es gibt keinen Gott.“) In diesem Spannungsfeld bewegt sich der christliche Glaube an den dreifaltigen Gott. Christen teilen mit den Muslimen den Monotheismus bzw. den Glauben an den einen Gott, den Schöpfer der Welt, an seine absolute Weltüberlegenheit und an seine Barmherzigkeit. Muslime lehnen dagegen den christlichen Glauben an den dreifaltigen Gott ab, weil sie darin einen Polytheismus und damit eine Absage an den Monotheismus bzw. an die abso- lute Souveränität Allahs sehen (Vgl. Koransuren Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 9). |
Glaubens und zur Auseinandersetzung bzw. zum Dialog mit dem Islam
1. "Die Schöpfung ist Bild und Spiegel des Schöpfers im Gegenwärtigen."
(Nikolaus von Cues 1401 - 1464)
2. Die Welt, in der wir leben, hat eine trinitarische Struktur bzw. drei grund-
legende Dimensionen.
3. Deshalb dürfen wir annehmen, dass auch ihr Schöpfer trinitarisch ist,
wie wir es im Credo glaubend bekennen.
Zu 2: Die drei Dimensionen unserer Welt sind:
1. das Es: Die uns umgebende Welt (Natur), deren Teil wir sind
2. das Du: Die uns im Gegenüber begegnende Person, in der wir uns selbst als Person erkennen
3. das Ich: Die in uns lebende Geistseele, die uns kommunikations-fähig macht
Zu 3: Das Glaubensbekenntnis hat demgemäß eine trinitarische Struktur:
1. Ich glaube an den "Vater", der alles ("Es") hervorbringt.
2. Ich glaube an den "Sohn Jesus Christus", in dem sich Gott als sein "Wort" (logos) uns mitteilt bzw. sich
offenbart und uns als "Du" anspricht (Menschwerdung).
3. Ich glaube an den "Heiligen Geist", der als Gottes Geist in uns wohnt ("in uns ausgegossen ist"
und uns befähigt"ich" zu sagen).
III. Die Herausforderung durch den Atheismus
Der Atheismus bedeutet für den Glauben an Gott vor allem eine Herausforderung
1. durch das naturwissenschaftlich geprägte Weltbild,
2. durch die Theodizee-Frage: "Wie kann ein barmherziger Gott das Leid zulassen?"
Der Glaube an den dreifaltigen Gott bietet eine Basis für den Dialog mit dem
Atheismus, indem er
1. die Welt (Natur und Mensch) nicht nur als Schöpfung, sondern auch als Ort der
Gegenwart Gottes durch seine Selbstoffenbarung betrachtet,
2. die Frage nach dem Leid im Blick auf den mitleidenden Gott (Menschwerdung
bis zum Tod am Kreuz) auch ohne eine endgültige Antwort auszuhalten vermag.
Dr. Siegfried Schröer / www.schroeer-ebe.de
- [1] „Fides quaerens intellectum“ / Anselm von Canterburry in: „Proslogion“
- [2]
„Wissenschaft ist die Kunst der Annäherung. ... Der Mensch ist zwar ein aufmerksamer Beobachter, aber eben auch ein subjektiver. Hochrangige Gelehrte bezweifeln, dass wir überhaupt etwas werden verifizieren können…. Nie können wir genügend Versuchsreihen durchführen, um etwas wirklich zu beweisen, denn die Reihe dieser Versuche müsste theoretisch unendlich sein. … Dafür vermögen wir sehr wohl zu falsifizieren. … So gelingt es der Wissenschaft auf erstaunliche Weise, Hypothesen zu verfeinern und sich deren Wahrscheinlichkeit zu nähern. Gewissheit aber wird sie nie erlangen.“
Frank Schätzing in: „Nachrichten aus einem unbekannten Universum“, Köln 2006, S. 153 f. - [3] Beispiel: Benedikt von Nursia wurde in einer Höhle, in die er sich aus Rom auf seiner Suche nach einer tragfähigen Gottes-Beziehung geflüchtet hatte, von einem Hirten mit Lebensmitteln versorgt. Nach einiger Zeit gesellten sich, ohne dass er es gewollt hatte, Gleichgesinnte zu ihm, und er erkannte, dass das Leben in Gemeinschaft (das zönobitische Mönchtum) der bessere Weg sei als der des Einsiedlers. Ähnlich war es schon den Wüstenvätern in Ägypten ergangen.
- [4] Nach Friedrich von Schiller ist es „der Geist, der sich den Körper baut“.
- [5] Von Rudolf Virchow (1821-1902), dem berühmten Arzt, Pathologen und Gesundheitspolitiker wird berichtet, dass er sie leugnete, weil er bei der Sezierung von menschlichen Gehirnen keine Seele gefunden habe, und etliche moderne Neurowissenschaftler wie Wolf Singer glauben, unser Innenleben bestehe nur aus neuronalen, also rein somatischen Prozessen.
- [6] Vgl. den Titel „Wer bin ich – wenn ja wie viele?“ von David Richard Precht
- [7] Wir können durchaus die Evolution als wissenschaftliches Denkmodel akzeptieren, ohne den Schöpfungsglauben aufzugeben. Naturwissenschaft und Glaube sind keine Gegensätze, so wenig wie glauben und wissen bzw. fides und ratio (vgl. die Enzyklika Johannes Pauls II.) sondern sie ergänzen sich. Dazu ein Bild: Ein Augenarzt schaut seiner geliebten Frau auf zweifache Weise in die Augen: liebend und diagnostisch.
- [8] „Der Mensch ist nichts anderes als eine besonders komplizierte Maschine“, so Julien La Mettrie 1748.
- [9] Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“, 1. Teil Abs. 3
- [10] Vgl. Pierre Teilhard de Chardin: „Der göttliche Bereich“ (Le milieu divin), Olten und Freiburg i.B. 1962
- [11] Otto Betz: „Das Unscheinbare ist das Wunderbare“, Eschbach 1994, S. 20
Dr. Siegfried Schröer
„Gedichte zur Gottesfrage“ von Georg Langenhorst - Rezension -
Die von Georg Langenhorst[1] vorgestellten, interpretierten und didaktisch erschlossenen 48 Gedichte stammen vorwiegend von Autoren des 20. Jahrhunderts, die die Gottsuche und Gottessehnsucht, aber ebenso die Gotteskrise und die Gottesleugnung zur Sprache bringen. Zuvor aber wendet Langenhorst den Blick zurück und lässt vier ganz von der christlichen Tradition geprägte Dichter zu Wort kommen: Friedrich Spee von Langenfeld, Paul Gerhardt, Annette von Droste-Hülshoff und Eduard Mörike. Im folgenden Kapitel stellt er Gedichte vor, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind und deren Verfasser sich noch dem „Geist der <christlichen> Tradition“ verpflichtet wissen (Rainer Maria Rilke, Gertrud von le Fort, Jochen Klepper, Reinhold Schneider). Das dritte Kapitel enthält Gedichte aus dem Geist des Judentums, die ebenfalls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sind, aber – bei aller noch verbliebenen Gottesgewissheit – schon von Zweifel und Klage und einer schmerzhaften Gottesbeziehung gekennzeichnet sind (Else Lasker-Schüler, Karl Wolfskehl, Gertrud Kolmar, Ivan Goll). Diese drei Kapitel fasst Langenhorst unter dem Titel „Grundlegungen“ als ersten Hauptteil seines Buches zusammen.
Den breitesten Raum nehmen die beiden Hauptteile II und III ein, in denen jeweils zwölf Gedichte unter den Titeln „Zeugnisse zerbrechender Gottesgewissheit“ und „Gebet und Gegengebet“ vorgestellt und interpretiert werden.
Im Hauptteil II signalisieren schon die Überschriften der drei Kapitel, dass hier die Gotteskrise der Moderne ohne Scheuklappen angegangen wird: „De Profundis: Christliche Stimmen zwischen Klage und Anklage“ (Texte von Ernst Thrasolt, Christine Lavant, Thomas Bernhard, Ernst Jandl); „Gedichte nach Auschwitz? – Zwischen Stammeln und Verstummen“ (Texte von Nelly Sachs, Paul Celan, Johannes Bobrowski, Marie-Luise Kaschnitz); „Gott ist tot! – Zwischen Verabschiedung und Absage“ (Texte von Bertolt Brecht, Günter Kunert, Ernst Meister, Adolf Endler). Während bei Nelly Sachs und Paul Celan der jüdische und bei Johannes Bobrowski und Marie-Luise Kaschnitz der christliche Hintergrund bei allen Zweifeln noch durchscheinen, rechnet etwa Bertolt Brecht schonungslos mit einem Gott ab, der „ewig und unsichtbar, strahlend und grausam über dem ewigen Plan“ und dem Elend der Menschen thront („Hymne an Gott“) und sieht Günter Kunert in den Menschen hilflose „Götter“, über denen es nichts anderes gibt – erst recht keinen gnädigen und barmherzigen Gott. Das von Langenhorst vorgestellte Gedicht von Günter Kunert sei hier als exemplarisch dokumentiert und gedeutet:
Günter Kunert: Götterdämmerung
Nicht festzuhalten: Dieser Tag, Das Leben.
Gewebe löst sich auf und schwindet hin.
Was auch geschieht, du suchst den Sinn.
Zumindest wirst du danach streben.
Du kannst die Einsicht nicht ertragen:
Aus Dreck und Feuer eine Spottgeburt,
die haltlos durch das Universum tourt,
stets auf der Flucht vor solchen Fragen.
Erkenntnis die: Wir können uns nicht fassen.
Und finden keinen, der uns Göttern gleicht.
Und keinen, der uns Hilfe reicht.
Wir sind uns ohne Gnade überlassen.
Man könnte auch sagen: Wir Menschen sind ein hoffnungsloser und aussichtsloser Fall, sinnlos der Vergänglichkeit preisgegeben in das Universum geworfen, sind selber „Götter“ und doch hilflos; von einem uns gnädig gestimmten Gott „über uns“ kann ohnehin keine Rede sein. Wenn man einen Schritt weitergehen will: Der Götterdämmerung bzw. dem Tod Gottes folgt die Menschendämmerung bzw. der Tod des Menschen, weil diese sinn- und aussichtslose Existenz nicht zu ertragen ist. Auf die Frage, ob Literatur Sinnstiftung und Lebensorientierung anbieten könne, antwortet Kunert selbst: „da muss die Literatur kapitulieren. Ihre Antwort ist: Keine Antwort.“ (G. Kunert: Diesseits des Erinnerns, Aufsätze, München/Wien 1982) Auch die Literaten sind demnach hilflos angesichts der Sinnfrage. Aber als einer von ihnen konfrontiert Kunert seine Leser schonungslos mit der Konsequenz, die sich für den Menschen aus dem Tod Gottes ergibt, und folgt damit der Spur des „tollen Menschen“ in Nietzsches Parabel aus dem Buch „Die fröhliche Wissenschaft“: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ Man mag auch an Martin Walsers Wort denken, dass uns das „Fehlen Gottes wie ein ziehender Zahnschmerz peinigt“.
Im Hauptteil III („Gebet und Gegengebet“) werden einerseits Gedichte präsentiert, die in Gebetsform sich radikal gegen Gott, besonders gegen den Vater-Gott, wenden, andererseits solche, die zögernd und zweifelnd sich ihm wieder zuwenden (Gedichte von Robert Gernhardt, Ernst Jandl, Rose Ausländer, Robert Schneider, Marie-Luise Kaschnitz, Ulla Hahn, Hans Magnus Enzensberger, Rainer Malkowski, Hilde Domin, Kurt Marti, Hans Ulrich Treichel, Ralf Rothmann). Besonders drastisch fällt die – formal dem Glaubensbekenntnis nachgebildete – Absage an Gott bei Ernst Jandl aus, der sich aus einer angstbesetzten religiösen Sozialisation zu befreien sucht und dabei vor Wendungen aus der Fäkalsprache nicht zurückscheut („Ich klebe an Gott“).
Als exemplarisch für eine neue Annäherung an Gott kann das Gedicht „Psalm Meier“ (2000 veröffentlicht) von dem vor allem als Romancier bekannten (wie Jandl aus einem katholischen Milieu stammenden) Ralf Rothmann angesehen werden. Langenhorst ist der Auffassung, dass ein „Autor mit Profil“ ein solches Gedicht vor dreißig Jahren nicht hätte veröffentlichen können, „ohne seinen Ruf als ernsthafter Schriftsteller zu gefährden“. Man hätte ihn damals „überrascht-entsetzt in eine religiöse Schublade gesteckt und vergessen“. Heute aber sei „Religion wieder ein offenes mögliches Thema“, weil die „Kirchen nicht mehr als mögliche Machtinstitutionen wahrgenommen werden, welche diese Texte vereinnahmen könnten und gegen deren Zugriff man sich als Autor schützen müsste.“
Ralf Rothmann: Psalm Meier
Lobe ihn, meine Seele, preise ihn mit aller Kraft,
mit der Faust in der Tasche und dem
Totenschein in der Faust. In deinem kranken Schmuck,
dem Kleid aus Grind und Karzinomen,
lobe den Herrn, bis du am Boden liegst
und nichts mehr tragen kannst. Bis du erfährst,
was uns trägt.
Bedenke, dass du nicht stirbst, meine Seele,
dass alle Winter der Welt in diesem Frühjahr blühen,
versuche nicht, klüger als das Gras zu sein.
Überhöre das Schweigen der Spötter,
lass dich verlachen und lache mit: Die ihren Bauch blähen
mit fetten Reden, deinen Jubel buchstabieren und
den Geist verkünden aus dem Feuilleton der Toten,
sie sind bestenfalls bei Verstand.
Ihr Gott ist ein Gefrierfach.
Vergib dir deine früheren Wege,
dein billiges, dreckiges Schaumstoff-Leben,
verzeih dir schnell, meine Seele, denn niemand wird klagen
am Ende deiner Zeit, kein Engel wird sagen: Karl Meier,
warum bist du nicht Jesus gewesen. Oder wenigstens
ein Märtyrer. Aber jeder Halm, jeder Stein, jeder
berstende Stern fragt dich schon jetzt: Warum bist du nicht
Karl Meier gewesen?
Lobe den Herrn. Lies die verblichene Schrift.
Sieh, wie schön du wirst über den Zeilen, ein Freund
der Lieder. Rufe ihn, meine Seele, ruf ihn jetzt.
In jedem „Wo bist du?“ sind hundert
„Hier“.
Dieses Psalmgedicht kann durchaus irritieren und den Leser fragen lassen, ob der Autor die Aufforderung zum Lobpreis des Herrn ernst meint oder ob das pure Ironie ist. Der Psalmenbeter kennt allerdings die Spannung, die auch dieses Gedicht durchzieht, die Spannung zwischen Lobpreis und Klage, ja Anklage, wie sie charakteristisch ist für den Psalm 22 („Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“), aber auch für die beiden Psalmen 102 und 103 im Zusammenhang gelesen. Da wird nichts beschönigt an der menschlichen Existenz im Elend angesichts des Todes. Da werden auch die Wut und die Empörung nicht verschwiegen. Aber den Spöttern, den Aufgeklärten und Besserwissern, die den Tod vergöttern, wird eine Absage erteilt. Gegen sie wird eine Hoffnung auf Unsterblichkeit aufgeboten, deren Voraussetzung der Glaube an einen lebendigen Gott ist.
Damit liegt das Gedicht Rothmann auf der Linie der folgenden zwölf Gedichte, die Langenhorst unter den Titel stellt: „Texte neuer Annäherung an Gott“. (Gedichte von Reiner Kunze, Eva Zeller, Kurt Marti, Michael Krüger, Richard Exner, Friederike Mayröcker, Christine Busta, Silja Walter und Heinz Piontek.) Das zweite Kapitel dieses IV. Hauptteils des Buches ist überschrieben: „Auf der Suche nach einer neuen Gottesrede“. Diese Suche soll abschließend am Beispiel eines Gedichtes von Christine Busta verdeutlicht werden.
Christine Busta: Schneepsalm
Heute nenn ich Dich Schnee, Du unerschöpflicher Schöpfer vergänglicher Sternkristalle, der die nackten Äcker bekleidet, den Wanderer weglos macht und die ärmlichsten Hütten füllt mit Geborgenheit und Einkehr.
Schwebender Du, der den Bäumen Last wird, der die tapferen Krähen auswirft in die Stille und die Tiere aus den Wäldern den Menschen nahbringt, der die Hilflosen hilfloser macht und die Hilfsbereiten bereiter.
Lautloser, der das Vertrauen entfremdet, wird uns deine Fülle begraben, werden Flüche das Lob ersticken? Morgen vielleicht schon wird uns Dein Weiß blenden und Du beginnst zu tauen. Herrlicher! Dann nenn ich Dich Sonne.
Der Anfang und das Ende dieses Gedichtes lassen erkennen, dass die Dichterin neue Namen für den „Namenlosen“ sucht und sie auf ihre Tragfähigkeit abklopft. Sie scheut sich nicht, den Ungreifbaren und „unerschöpflichen Schöpfer“ mit „Du“ anzureden, aber sie lässt auch die Zweifel zu, ob der „Schwebende“ und „Lautlose“ dem Betenden nicht auch „das Vertrauen entfremdet“ und ob „Flüche <nicht> das Lob ersticken“ könnten. Die von ihr gebrauchten Bilder markieren Annäherungspunkte und wollen nicht alles abdecken, was von Gott noch gedacht werden könnte – und vielleicht auch gesagt. Der Ton der Ehrfurcht aber ist gegen alle Zweifel in diesem Gedicht nicht zu überhören.
Nachbemerkung: Unser Reden, wenn es um Gott geht, sollte nie vergessen machen, dass Gott nie Gegenstand, Objekt sein kann. Deshalb ist die – leider auch mehrfach von Langenhorst gebrauchte – Wendung „Reden über Gott“ fatal, ja unzulässig. Auch die Theologie kann keine „über“ Gott redende Wissenschaft sein, sie kann allenfalls den Glauben an Gott und seine Ausprägungen in Geschichte und Gegenwart zum Gegenstand haben. Allenfalls können wir „von“ Gott reden, „von“ seinem Wort, das uns getroffen hat, „von“ Begegnungen mit ihm, die unser Leben existentiell getroffen haben. Und die Theologie ist dann nichts anderes als das Reflektieren und Systematisieren dessen, was glaubenden Menschen in der Gottesbegegnung widerfährt oder widerfahren ist. Eine bleibende Aufgabe der Theologie ist deshalb auch das geduldige Hören auf poetische Zeugnisse solchen Glaubens und seiner Anfechtung. Dazu hat Langenhorst mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag geleistet.
[1] Georg Langenhorst ist Professor für Katholische Religionspädagogik in Augsburg. Das Buch erschien 2003 in München.
Dr. Siegfried Schröer
Unser Kreuz mit dem Kreuz / Kreuzestheologie auf dem Prüfstand
Dass das Kreuz, besser: der Gekreuzigte, im Mittelpunkt der christlichen Botschaft steht und zentrales Symbol des Christentums ist, liegt auf der Hand. Ebenso offenkundig ist seine zunehmende Ablehnung in der modernen westlichen Gesellschaft. Der Streit um die Kreuze in den Schulen und die entsprechenden Gerichtsurteile geben davon ein beredtes Zeugnis. Ähnliches gilt für die Kennzeichnung eines Bildes mit dem Gekreuzigten als sado-masochistisch, wie ich es kürzlich in einem Artikel über Elfriede Jelinek gelesen habe. Die Literatur-Nobelpreisträgerin wird dazu mit dem Satz zitiert: „Eine Religion, die einen Gefolterten zur Ikone hat, ist natürlich eine der unheimlichsten.“ Vielen modernen Menschen ist in der Tat das Christentum mit seinem zentralen Symbol unheimlich geworden. Dazu ist es heute üblich geworden, die mittelalterlichen Kreuzzüge als Argument gegen das Christentum anzuführen. (N.B. Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass das Kreuz seit Kaiser Konstantin auch als Siegeszeichen in kriegerischen Auseinandersetzungen und bei Eroberungsfeldzügen missbraucht worden ist.) Dieser Vorwurf wird vermutlich aber auch als Vorwand benutzt, denn die Ablehnung hat tiefere Wurzeln, und die sind nicht so neu und werden schon vom Apostel Paulus artikuliert: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit.“ (1. Kor 1,22.23) „Eine Eselei“ könnte man auch sagen im Blick auf jenes antike Graffitto im Pädagogium auf dem Palatin in Rom, das einen Gekreuzigter mit Eselskopf, einen davor knieenden jungen Mann und die Inschrift „Alexamenos betet seinen Gott an“ zeigt und damit eine Verspottung des christlichen Glaubens darstellt.
Aber müssen wir nicht zugeben, dass wir selbst „unser Kreuz mit dem Kreuz“ haben bzw. mit der Vorstellung, dass ein blutiges Opfer am Kreuz notwendig war für unsere Erlösung von den Sünden? Ist es nicht an der Zeit, diese Vorstellung zu überdenken, weil sie noch zu sehr geprägt von dem archaischen heidnischen Glauben, dass Gott bzw. die Götter durch Opfer, auch Menschen- und sogar Kinderopfer, gnädig gestimmt werden müssen, damit sie uns Menschen nicht strafen oder schaden? Ist es nicht auch für uns ein Ärgernis und eine Torheit, das Kreuz, die Kreuzigung, also eine grausame Tötung als Zeichen des Lebens, der Rettung, des Heils anzusehen und dies auch noch zu preisen, wie wir es in dem oft nach der Wandlung in der Eucharistiefeier gesungenen Kanon tun: „Wir preisen deinen Tod. Wir glauben, dass du lebst. Wir hoffen, dass du kommst zum Heil der Welt.“? Und das zentrale Sakrament Eucharistie wird als Gegenwärtigsetzung der Passion Jesu angesehen. Einen solchen Wert also soll der Kreuzestod haben?
Um es gleich festzuhalten: Es geht um den Gekreuzigten, den Menschen Jesus von Nazaret, den wir als den „Christus“, den Gottgesalbten bekennen, und nicht um das Kreuz als solches, ja nicht einmal um die Kreuzigung als solche, also eine Hinrichtungsart, die im römischen Reich üblich war (nicht für Staatsbürger). Die Fixierung auf das Kreuz bzw. die Kreuzigung verstellt uns (möglicherweise) den Blick auf den Gekreuzigten und sein Leben. Es geht nicht um ein blutiges Opfer, das Gott zur Versöhnung mit der Menschheit fordert, wie es die (möglicherweise auch) missverstandene „Satisfaktionstheorie“ des Anselm von Canterbury versteht – ein mittelalterliches, dem Lehnsrecht entnommenes Denkmodell, dem wir heute nichts mehr abgewinnen können. Es hat tatsächlich mit dazu beigetragen, das Kreuz sadomasochistisch zu deuten: Gottvater als Sadisten und Jesus Christus als Masochisten. Es ist also notwendig, den Kreuzestod Jesu neu zu buchstabieren. Das beginnt damit, dass wir Jesus zunächst als Opfer einer Gewalttat sehen, als victima, wie er im Osterhymnus „Victimae paschali laudes“ bezeichnet wird, und nicht als „sacrificium“, als Versöhnungsopfer, das notwendig ist, um den beleidigten Gott gnädig zu stimmen. Es geht beim Kreuzestod Jesu vielmehr um die letzte Konsequenz aus einem Leben der Hingabe an die Menschen, um die unüberbietbare Nähe Gottes zu den Menschen. Der Kreuzestod ist demnach eine zwangsläufige Konsequenz aus seinem Leben, das geprägt war von der vorbehaltlosen Liebe zu den Menschen, besonders zu den Armen, einer Liebe, die für die Mächtigen der Welt ein Ärgernis darstellt und deshalb umgebracht werden muss. Sein „Opfer“ im Sinne der „Lebenshingabe“ beginnt also bereits mit seiner Geburt bzw. seiner Zeugung, also mit der Menschwerdung, mit der das Werk der Erlösung bzw. Versöhnung schon in Gang gesetzt worden ist, insofern kann man auch von „sacrificium“ sprechen.
Sowohl biblische Zeugnisse als auch das große Glaubensbekenntnis können uns in dieser Auffassung bestärken:
Hebräerbrief Kap 10, 5-7.10: „Christus spricht bei seinem Eintritt in die Welt: Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du mir geschaffen; an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen. Da sagte ich: Ja, ich komme – so steht es über mich in der Schriftrolle - , um deinen Willen, Gott, zu tun. (Ps 40,7-9) Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Opfergabe seines Leibes ein für allemal geheiligt.“
Das Matthäusevangelium zitiert zweimal (Mt 9,13 und 12,7) den Propheten Hosea (6,6) mit den Worten: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.“
Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es: „Und das Wort (der göttliche logos) ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)
Im Philipperbrief zitiert Paulus einen Christushymnus: „Seit untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2,5-8)
Im großen Glaubensbekenntnis heißt es: „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“
Jesus zeigt uns also das menschliche Antlitz Gottes bis in die letzte Konsequenz des Todes hinein, des schändlichsten Todes, den man sich damals vorstellen konnte. Dieser Tod spricht nicht gegen Gott, sondern gegen eine Menschenwelt, in der die vorbehaltlose Liebe keine Chance hat, sondern bekämpft und eliminiert wird. Es geht demnach beim Kreuz bzw. Kreuzestod nicht um eine Verächtlichmachung des irdischen Lebens (wie etwa Friedrich Nietzsche meinte), sondern um seine Vollendung im sogenannten „ewigen Leben“. Die Wertschätzung dieses Todes ist also keine Verherrlichung des Leidens, des Todes, der Kreuzigung an sich, sondern eine Verherrlichung dessen, der sich nicht gescheut hat, sein Leben aufs Spiel zu setzen, sich für die Ärmsten der Armen einzusetzen und sich mit ihnen zu solidarisieren, Tischgemeinschaft (also Lebensgemeinschaft) zu halten mit den Ausgestoßenen und Verachteten (den „aniwim“ auf hebr.), aber auch mit den Suchenden, den Menschen guten Willens. Jesus kannte diesbezüglich keine Grenzen. (Vgl. z.B. seine Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Aussätzigen, Mt 9,10-11, Mt 26,6). Das schaffte Unruhe in der Gesellschaft und gefährdete das labile Gleichgewicht zwischen den herrschenden Mächtigen in Politik und Religion. Deshalb musste der Unruhestifter beseitigt werden; das lag im Interesse der römischen Besatzungsmacht ebenso wie der jüdischen Priesterkaste und der führenden Leute des Sanhedrin, des Hohen Rates der Juden, der zur Sicherung des Tempelkults ein Agreement mit der Besatzungsmacht eingegangen war. So sehen viele Bibelwissenschaftler die historischen Zusammenhänge. In einer tieferen, theologischen Deutung darf man im Anschluss an Lk 24,26 aber wohl Gottes Heilsplan so verstehen, dass dieses Todesleiden des Messias Gottes notwendig war, damit er als solcher beglaubigt wurde, dass er also bis zur letzten Konsequenz von Gottes Liebe erfüllt ist, also göttlich, und so die Verbindung zwischen Gott und Mensch wiederhergestellt bzw. hergestellt werde konnte und der Mensch Jesus als „erster der Entschlafenen“ des göttlichen Lebens in Herrlichkeit teilhaftig werden konnte. So ist demnach das Jesus-Wort zu verstehen: „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten.“ (Lk 9,24) Wer also in der Nachfolge Jesu sein Leben für die Armen (für alle, die bedürftig sind, zu kurz gekommen sind) einsetzt, wird das Leben gewinnen, gibt dem Leben seinen eigentlichen Wert. Man kann auch sagen: Das Leben ist die Liebe wert, oder das Maß für den Wert des Lebens ist die Liebe. Im Kreuz zeigt sich die maßlose Liebe Gottes. Sich zum Kreuz zu bekennen bzw. mit Jesus das Kreuz tragen, sein Leben sozusagen „durchkreuzen“ lassen, heißt dann: an die Liebe Gottes glauben und sich von ihr anstecken lassen – gegen den Trend, gegen die herrschende Meinung, dass es wahre Liebe nicht gibt und geben kann, sondern nur die „Ware Liebe“, also Liebe als Ware, welche die Vergnügungs- und Unterhaltungsindustrie allenthalben feilbietet. In diesem Unglauben zeigt sich m.E. der eigentliche (praktische) Atheismus, der immer mehr um sich greift und die Welt in eine Eiszone verwandelt. Und so kauft sich der Zeitgenosse in den Konsum-, Wellness- und Körperkult-Tempeln die ihm fehlende Wärme.
Sache des Christen, unsere Sache ist es, dagegen den Wert der Liebe im Zeichen des Kreuzes zu bezeugen. Nur wenn wir selbst an die Liebe Gottes glauben, glauben geliebt zu sein und aktiv an der Liebe Gottes partizipieren zu können und tatsächlich zu partizipieren, kann diese höchste „christliche Wertvorstellung“ vermittelt werden – auch der heutigen Welt. Denn „heimlich dürstet“ diese abgebrühte Gesellschaft nach nichts mehr als nach wahrer Liebe. Nur: Wie soll ihr Durst gestillt werden, wenn diejenigen, die sich Christen nennen, genauso abgebrüht und dem Zeitgeist verfallen sind?
Dr. Siegfried Schröer
Der Ukraine-Konflikt und seine kirchengeschichtlichen Hintergründe
Teil I:
Überblick über die Geschichte der Kirche von der „Konstantinischen Wende“ bis zur Kirchenspaltung 1054
313 | „Mailänder Toleranzedikt“: Kaiser Konstantin gewährt den Christen volle Freiheit |
325 | Konzil von Nizäa: „Jesus Christus als Gottes Sohn dem Vater wesensgleich (Athanasius von Alexandrien), nicht nur wesensähnlich“ (Arius) |
330 | Kaiser Konstantin verlegt seine Residenz von Rom nach Byzanz (Konstantinopel) |
342/342 | 1. Schisma: Westliche Bischöfe erklären auf der Synode von Sardika (Sofia) den Bann über östliche Bischöfe und umgekehrt (im Streit über die Geltung des Konzils von Nizäa). |
353 | Synode von Arles verbannt auf Betreiben des Kaisers Konstantius II. Athanasius nach Trier |
354 | Synode von Mailand verurteilt Athanasius |
360 | In Rom wird das Griechische als Liturgiesprache durch das Lateinische ersetzt. |
380 | Kaiser Theodosius erklärt das Christentum zur Staatsreligion und bestimmt, dass alle Reichsuntertanen Christen sein sollen. |
391 | Alle heidnischen Kulte werden verboten. Ausgrenzung des Judentums |
431 | Konzil von Ephesus: „Maria ist Gottesmutter“ (Theotokos) / gegen Nestorius, den Pa- triarchen von Konstantinopel, gerichtet |
451 |
Konzil von Chalcedon: „In Jesus Christus eine Person in zwei Naturen, göttliche und
menschliche Natur ungetrennt und unvermischt“ / gegen den Monophysitismus / Ab-
Spaltung der Koptischen Kirche, der Armenischen Kirche und der Äthiopischen Kirche
(Autokephalien)
Betonung der Gleichwertigkeit der Bischofstühle von Rom und Konstantinopel |
476 | Ende des weströmischen Reiches: Odoaker setzt den letzten Kaiser Romulus Augustulus ab. |
484 | 1. wirkliches Schisma zwischen West- und Ostkirche (519 beigelegt): In Rom wird der Patriarch von Konstantinopel, Akakios, wegen Zweifeln am Konzil von Chalcedon exkommuniziert. |
494 | Papst Gelasius formuliert erstmals die „Zwei-Reiche-Lehre“ in einem Brief an Kaiser Anastasios I: „Die kaiserliche Gewalt bleibt der päpstlichen untergeordnet.“ |
529 | Zerstörung der heidnischen Tempel und Schließung der Akademie in Athen |
537 | Einweihung der Hagia Sophia in Konstantinopel / Zentralbau in Form des griechischen Kreuzes |
555 | Dekret des Kaisers Justinian, dass die Wahl des römischen Bischofs der Zustimmung des Kaisers bedarf („Cäsaropapismus“) |
710 | Papst Konstantin I. reist (vergeblich) nach Konstantinopel, um die anstehenden Probleme friedlich zu lösen (letzte Reise eines Papstes nach Konstantinopel bis 1967 / Reise Papst Paul VI.). Ende der byzantinischen Gefangenschaft Roms. Das Papsttum wendet sich verstärkt der fränkisch-germanischen Welt zu. |
726/730 | Bildersturm (Ikonoklasmus) unter Kaiser Leon III. |
787 | 2. Konzil von Nizäa: Bilderverehrung wird erlaubt. / Die Einheit zwischen Rom und Konstantinopel wird wieder hergestellt. |
867 | Synode von Konstantinopel: Schisma durch den Bannfluch des Patriarchen Photius gegen Papst Nikolaus I.u. a. wegen des Streits um das „filioque“ im 3. Glaubensartikel (…, der vom Vater und vom Sohne ausgeht). Hintergrund auch: Der „Wettlauf“ zwi-schen Ost- und Westkirche bei der Slawenmission. |
869/870 | 4. Konzil von Konstantinopel: Beseitigung des Schismas von 867 / letztes gemeinsames Konzil |
1054 | Trennung zwischen West- und Ostkirche: Dem päpstlichen Legaten Humbert von Silva-Candida wird in Konstantinopel vom dortigen Patriarchen, Michael Kerularius, untersagt, die Hl. Messe nach lateinischem Ritus zu feiern. Daraufhin legt Humbert die Exkommunikationsbulle auf den Altar der Haghia Sofia. Die Römisch-Katholische Kirche (West) und die Orthodoxe Kirche (Ost) bleiben bis heute getrennt. |
Der Ukraine-Konflikt und seine kirchengeschichtlichen Hintergründe
Teil II:
Von der Taufe Wladimirs von Kiew bis heute
988 | Der Großfürst Wladimir von Kiew (Nachfahr des vermutlichen Gründers des Reiches der Kiewer Rus, Rurik des Warägers – Wikinger – im 9. Jahrh.) lässt sich taufen und heiratet Anna, die Schwester des byzantinischen Kaisers / Gründung der Metropolie von Kiew unter dem byzantinischen Patriarchat |
1000 | Polen schließt sich dem lateinischen Kulturkreis an / Treffen des römischen Kaisers Otto III. mit dem Polenherzog Boleslaw Chobry / Errichtung des Erzbistums Gnesen durch Papst Silvester II. |
1054 | Trennung von Ost- und Westkirche / Römisch-Katholischer und Orthodoxer Kirche als Schlusspunkt einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung bzw. Entfremdung Die Metropolie von Kiew pflegt aber auch danach Verbindungen mit Rom, besonders unter den Metropoliten Roman (+ 1205) und Danylo (+1264). |
1240 | Einfall der Mongolen (Tataren) / Neue Machtzentren entstehen: Moskau im Norden; Galizien-Wolhynien im Westen; dieses hat weiterhin Beziehungen zu Rom. Die Metropolie wird von Kiew nach Wladimir nördlich von Moskau verlegt. |
1274 | Versuch einer Wiedervereinigung von Ost- und Westkirche auf dem II. Konzil von Lyon, der aber scheitert. |
1325 | Verlegung der Metropolie von Wladimir nach Moskau. Das veranlasst den Fürsten von Galizien-Wolhynien mit Zustimmung des Patriarchen von Konstantinopel zur Gründung einer Metropolie in Halic (Lemberg) |
14. Jahrh.: | Der größte Teil der Ukraine bzw. des ehem. Kiewer Reichs wird von Polen- Litauen erobert. Eine eigene Metropolie wird in Nowogrodek gegründet. Die Metropoliten nennen sich „Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus“ – wie die Metropoliten von Moskau. Der Süden bleibt unter der Herrschaft der „Goldenen Horde“ (Mongolen). |
1439 | Konzil von Florenz: Die Union zwischen Rom und der Metropolie von Kiew unter dem Metropoliten Isidor von Kiew (bis 1480 Verbindung mit Rom) wird von der Metropolie Moskau nicht akzeptiert: Unierte („griechisch-katholische“) Kirche kann ihre (“orthodoxe“) Liturgie und die Priesterehe beibehalten. (Gilt auch für weitere mit Rom unierte Kirchen im Osten.) |
1448 | Die Metropolie Kiew wird zweigeteilt. |
1453 | Die Türken erobern Konstantinopel. |
1589 | Der Patriarch von Konstantinopel gesteht dem Zaren ein eigenes Patriarchat Moskau zu („3. Rom“). |
1595/96 | Die ukrainisch-weißrussiche Kirche schließt mit Rom die Union von Brest. (Gilt auch für weitere mit Rom unierte Kirchen im Osten.) |
1620 | Mit Unterstützung der Kosaken wird die Metropolie Kiew erneuert. |
1648 | Mit Hilfe der Kosaken wird ein unabhängiger ukrainischer Staat gebildet, der sich aber bald unter das Protektorat Moskaus stellt. |
1667 | Teilung der Ukraine in einen östlichen Teil unter russischer Herrschaft und einen westlichen Teil unter polnisch-litauischer Herrschaft |
1685 | Die ukrainisch-orthodoxe Kirche im östlichen Teil wird dem Patriarchat Moskau zugeordnet. Im westlichen Teil breitet sich die mit Rom unierte Kirche aus. |
1764 | Aufhebung der Autonomie des russisch beherrschten Teils der Ukraine im Zuge der Westexpansion des Zarenreiches. |
1772/1795 | Auch der mittlere Teil der Ukraine fällt im Zuge der polnischen Teilungen an Russland. Die unierte Kirche wird dort aufgehoben. Der westliche Teil um Lemberg fällt an Österreich / Habsburg. |
1807 | Im habsburgischen Galizien wird die unierte Metropolie Lemberg erneuert. |
1917 | Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates (bis 1921), danach fallen der östliche und der mittlere Teil um Kiew an die Sowjetunion, der westliche Teil an Polen. |
1945 | Die ukrainisch-katholische Kirche wird von den Sowjets gewaltsam beseitigt; alle Bischöfe (u.a. der Erzbischof von Lemberg, Jozyf Slypyi) und ca. 1000 Priester werden verhaftet, die Union von Brest beseitigt. Die unierte Kirche überlebt im Untergrund und im Exil. |
1967 | Papst Paul VI. besucht den orthodoxen Patriarchen Athenagoras von Konstantinopel. (Bis heute steht eine – von Rom gewünschte – Einladung des Papstes durch den Patri- archen von Moskau aus.) |
1991 | Wiederherstellung der unierten Kirche und Wiedererrichtung des Erzbistums Lemberg |
2007 | Gegenseitige Anerkennung der Taufe zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche |
Martin Luther (1483 -1546)
Luther in seiner Zeit und seine Bedeutung für unsere Zeit
- Luthers Weg bis zur Veröffentlichung der 95 Thesen / vier Szenarien -
1. „Glaube und Wissen“ – Luther studiert ab 1501 an der „Artistenfakultät“ (studium generale) der Universität Erfurt die sogenannten sieben freien Künste und wird zum Magister Artium promoviert. Auf Wunsch des Vaters beginnt er anschließend das Jurastudium.
Luther wird an der Universität Zeuge der philosophisch-theologische Kontroversen um die Frage: „Kann die menschliche Vernunft zu einem sicheren Wissen von den Wirklichkeiten des Glaubens kommen?“
Die vorherrschende Auffassung der Scholastik, besonders vertreten durch Thomas von Aquin, beantwortet die Frage mit Ja, eine neuere Richtung, vertreten durch William von Ockham, mit nein. Die Erfurter Professoren neigen der moderneren Auffassung zu, mit der Luther sympathisiert. Sie fordern aber, dass die Kirche (das Lehramt) als Besitzerin des in die Dogmen eingebundenen Wissens um die Wahrheiten Gottes den Gehorsam fordern dürfe, die unbedingte Nachfolge der Vernunft auf dem Pfad des glaubenden Geistes.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Wissen ist bis heute virulent. Viele Menschen – auch Wissenschaftler – tun sich schwer mit der Einsicht, dass Glaube und Wissen zwei verschiedene Weisen des Erkennens sind, sich nicht ausschließen, sondern ergänzen.
2. „Angst und Zittern“ – Luther im Gewitter bei Stotternheim 1505: „Hilf du nun, Heilige Anna. Ich will ein Mönch werden.“ Luther im Orden der Augustiner-Eremiten, zunächst in Erfurt, wo er an der Universität Theologie studiert, zum Doktor der Theologie promoviert und zum Priester geweiht wird, später in Wittenberg, wo er 1512 Professor für Bibelwissenschaften wird. Die Frage „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ treibt ihn zunehmend um.
Luther ist hier noch ganz der Mensch des Mittelalters. Die Frage nach dem gnädigen Gott treibt nicht nur Luther um, ihn aber in zunehmendem Maße. Die Menschen jener Zeit lebten in der permanenten Angst, das ewige Seelenheil zu verlieren und damit für immer in der „Hölle“, der absoluten Gottesferne, leben zu müssen. Diese Gefahr bestand für sie besonders in einem „bösen schnellen Tod“ ohne die Vorbereitung durch den Empfang der Sakramente (Beichte, Kommunion, Ölung). Dazu kam aber auch die Angst vor den zeitlich begrenzten Strafen im Fegefeuer, die aber durch religiöse Übungen (besonders durch das Leben im Kloster), gute Werke oder Ablässe verkürzt oder aufgehoben werden konnten.
Diese Angst ist heute weitgehend verschwunden mit dem Verschwinden des Glaubens an das ewige Leben. Dafür leiden Menschen heute unter anderen Ängsten, vor allem unter der Angst, nicht mithalten zu können im Wettbewerb um Wohlstand und Lebensqualität hier und jetzt. Der säkulare Leistungsdruck ist an die Stelle des religiösen getreten.
3. „Freiheit und Gnade“ – Luthers Turmerlebnis im Augustinerkloster zu Wittenberg: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“ (Röm 1,17) Im vorbehaltlosen Vertrauen auf den schon immer gnädigen Gott wird der Mensch gerechtfertigt vor Gott und damit befreit von allen Leistungszwängen und Versagensängsten.
In dieser Erkenntnis, zu der sich Luther in den Jahren zwischen 1513 und 1519 durchgerungen hat, steckt der Kern der Reformation bzw. des reformatorischen Glaubensbekenntnisses: die viel beschworene „evangelische Freiheit“. Sie trägt erheblich zur Individualisierung des Menschen und seiner unveräußerlichen Würde als Person, und damit auch zu einem neuen Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen bei. Aus dieser Freiheit erwächst aber wiederum auch eine große Verantwortung für sich selbst und die Welt.
Die Freiheit ist aber ohne diese Verantwortung in Gefahr, zur Beliebigkeit auszuarten, und für die Durchsetzung eigener Interessen in Anspruch genommen zu werden – heute mehr denn je.
4. „Geld und Gott“ – Der Ablasshandel: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ (Tetzel, Dominikaner) Für Luther ist dagegen die Gnade Gottes und damit das Heil der Seele nicht käuflich, sondern unverdient, nachdem Jesus Christus durch sein stellvertretendes Erlöserleiden am Kreuz den Menschen die Gnade schon verdient hat.
Während Luther sich in einem jahrelangen inneren Prozess zu dieser befreienden Erkenntnis durchgerungen hat, hat sich die kirchliche Hierarchie immer mehr in weltliche Händel und in die Geldherrschaft, die die Feudalherrschaft abgelöst hat, verstrickt. Selbst das Seelenheil wird zum Objekt des Geldgeschäfts, an dem Papst und Bischöfe (vor allem der für Wittenberg zuständige Erzbischof von Magdeburg, Albrecht von Brandenburg) maßgeblich beteiligt sind: Papst und Erzbischof teilen sich die Einkünfte aus dem Ablasshandel. Die nach Rom fließenden Gelder werden für den Bau der neuen Peterskirche verwendet; Albrecht verwendet das Geld für die Abtragung seiner Schulden, die er bei Jakob Fugger gemacht hat, um sich von dem Verbot der Ämterhäufung freizukaufen, nachdem er auch Erzbischof von Mainz geworden war. Als Luther durch Tetzels Aktivitäten im Raum Wittenberg davon erfährt, geht er an die Öffentlichkeit, schickt seine 95 Thesen am 31. Oktober 1517 an „seinen“ Erzbischof und veröffentlicht sie dann an der Universität in Wittenberg, ohne zu ahnen, dass er damit das ganze Kirchenregiment ins Wanken bringen würde.
In den Thesen geht es ihm aber nur vordergründig um den Ablasshandel, sondern vielmehr um die Buße (Umkehr, Bekehrung) des Christen, d.h. um das Bekenntnis zur eigenen Sündhaftigkeit und das vorbehaltlose Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit im Blick auf das Kreuz Christi - im gesamten Leben. Von den Thesen wird ca. die Hälfte auf dem Konzil von Trient (1547 – 1565) anerkannt. Heute gelten sie nicht mehr als kirchentrennend. Vgl. Die gemeinsame Erklärung des Vatikans und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigungslehre am 31.10 1999.
Die Kreuzestheologie wird heute von immer mehr Theologen als Engführung der Erlösungslehre auf den Prüfstand gestellt: Nicht nur das Leiden, sondern das ganze Leben Jesu versöhnt die Menschheit mit Gott, denn in ihm ist Gott selbst Mensch geworden - bis zum Tod am Kreuz.. Heute interessieren sich in unserem Kulturkreis immer weniger Menschen für das (ewige) Seelenheil, umso mehr sind sie bereit, für Anerkennung und Liebe, für Glück und Wohlergehen viel Geld auszugeben, obwohl sie zumindest ahnen, dass das für ihr Leben Entscheidende ebenso wenig käuflich ist wie die göttliche Gnade.
I. Anfragen
Wie konnte das „Kreuz zum Schwert“ werden, nachdem Jesus bei seiner Gefangennahme
den Jünger, der ihn verteidigen wollte, ermahnt hatte: „Stecke dein Schwert in die Scheide;
denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.“ (Mt 26,52)?
Wie konnte es dazu kommen, dass Papst und Bischöfe als Nachfolger der Apostel zu
weltlichen Herrschern und Heerführern wurden und blutige Kreuzzüge veranlassten?
Wie konnte aus der Frohbotschaft des Evangeliums eine Drohbotschaft werden, obwohl
Paulus geschrieben hatte: „Wir wollen ja nicht Herren über euren Glauben sein, sondern wir
sind Helfer zu eurer Freude.“ (2 Kor 1,24)?
Wir konnte es dazu kommen, dass die Inquisition als Glaubenbehörde sogenannte Ketzer
verfolgte und durch weltliche Herrscher umbringen ließ?
Wie konnte es dazu kommen, dass Gläubige durch Androhung von Höllenstrafen und
Kirchenausschluss bedrängt und unterdrückt wurden oder noch werden?
Wie konnte es zu einer übermächtigen Hierarchie und zu einem quasi allwissenden
Lehramt kommen, nachdem schon der Prophet Jeremia für den „Neuen Bund“verkündet
hatte: „Ich werde mein Gesetz in ihr Herz schreiben und keiner wird den anderen mehr
belehren, denn alle werden mich erkennen, so spricht der Herr“. (Jer 31,31)?
Wie konnte es zu einer vom Klerus dominierten Kirche kommen, nachdem Petrus im
Anschluss an Ex 19,6 verkündet hatte: „Ihr seid eine königliche Priesterschaft, ein heiliges
Volk.“ (1 Petr 2,9)?
II. Zwölf geschichtliche Szenarien
- Jesus zu Pharisäern: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes
ist!“ (Mt 22,21) / Jesus am Ölberg zu dem Jünger, der ihn verteidigen will:
„Stecke dein Schwert in die Scheide, denn alle, die zum Schwert greifen, werden
durch das Schwert umkommen.“ (Mt 26,52) / Jesus zu Pilatus: „Mein Reich ist
nicht von dieser Welt.“ (Joh 18,36)
– Das Evangelium der Gewaltlosigkeit, die Kreuzigung und die Macht der Liebe
- Die verfolgte Kirche und die ersten Märtyrer (Stephanus und Jakobus d.Ä. in
Jerusalem / Petrus und Paulus in Rom) / Verfolgung durch Nero und etliche
andere Kaiser bis 313 / Kirche im Untergrund, trotzdem stetiges Wachstum /
zahlreiche Märtyrer
- Kaiser Konstantin I. (285/312 – 337): Toleranzedikt von Mailand 313 – Ende der
Verfolgungen / Das Christentum wird zur „religio licita“ (öffentlich erlaubten
Religion) neben anderen Kulten, erhält aber Privilegien für den Klerus.
Konstantin verlegt seine Residenz nach Byzanz bzw. Konstantinopel und legt
damit den Grundstein für die Spaltung des Reiches in West- und Ostrom (ein
Kaiser residiert in Rom, einer in Byzanz). Konstantin beruft 325 das Konzil von
Nizäa ein. Mit dem Ende des weströmischen Reiches 476 entsteht in Rom ein
Machtvakuum, das zunehmend von den Päpsten ausgefüllt wird.
- Kaiser Theodosius I. (375 – 395) erklärt per Dekret „Alle Untertanen sollen
Christen sein.“ Das Christentum wird de facto zur Staatsreligion. Es entsteht das
Imperium Romanum Christianum mit einer starken Verbindung von Kirche und
Staat.
- Kaiser Justinian (527 – 565): Verbot aller nicht-christlichen Kulte. Das
Christentum wird auch de iure Staatsreligion. Justinian dekretiert: Der Kaiser
steht über dem Papst bzw. Patriarchen („Cäsaropapimus“). Die Päpste erkennen
dieses Dekret nicht an. Die Spannungen zwischen Rom und Byzanz nehmen zu.
- Kaiser Karl d. G. (768/800 – 814) und Papst Leo III. (795 – 816): Erneuerung des
Imperium Romanum im Westen, Krönung Karls durch Leo III. zum Imperator
Romanus Weinachten 800, Entstehung des Kirchenstaates schon unter Karls
Vater Pippin (Pippinsche Schenkung unter Berufung auf Konstantin I.) / 10.
Jahrh.: Kaiser Otto d. G. errichtet aus machtpolitischen Gründen die geistlichen
Fürstentümer.
- Bruch zwischen Rom und Byzanz 1054 / In Byzanz herrscht weiterhin der
Cäsaropapismuns (der nach dem Ende des byzantinischen Reiches auch vom
Zarenreich und dem Moskauer Patriarchat übernommen wird), während sich in
der Westkirche der Streit um die Vorherrschaft verschärft, was u.a. im
Investiturstreit seinen Ausdruck findet): Der Papst steht über dem Kaiser /
König Heinrich IV. (1056 – 1106) vor Papst Gregor VII. (1073 – 1085), der den
König bannt, 1074 nach dessen Bußgang in Canossa vom Bann befreit und
schließlich zum Kaiser krönt.
- Innozenz III. (1198-1216), der mächtigste Papst, versteht sich als Herrscher über
die ganze Welt, exkommuniziert den Stauferkaiser Friedrich II. (1215- 1250),
empfängt andererseits Franz von Assisi (1181/82 – 1226), bestätigt dessen Orden
und seine „regula bullata“. Höhepunkt der Entfaltung der weltlichen Macht der
Kirche.
- Kaiser Karl V. (1519 – 1556), Martin Luther (1483 – 1546) und die Spaltung der
westlichen Kirche in Römisch-Katholische Kirche einerseits und in evangelische
bzw. reformierte Reichskirchen und Landeskirchen andererseits („Cuius regio,
eius religio“, Augsburg 1555). Luther formuliert die „Zwei-Reiche“-Lehre.
Zunehmende Schwächung des politischen Einflusses der Kirche.
- Napoleon (1804 – 1814) krönt sich 1804 in Paris selbst zum Kaiser und lässt sich
von Papst Pius VII. salben, den er quasi zum Statisten degradiert. Säkularisation
1803: Aufhebung der geistlichen Fürstentümer / offizielles Ende des Imperium
Romanum 1806, Napoleon zwingt Kaiser Franz II.(1792 – 1806), die Krone des
römischen Kaisers abzulegen.
- Papst Pius IX. (1846 – 1878), Vatikanum I: Unfehlbarkeitsdogma und
Jurisdiktionsprimat 1870 / Ende des Kirchenstaates (Besetzung durch
italienische Truppen) und Einigung Italiens unter König Viktor Emmanuel II.
von Piemont-Savoyen 1871 / Der Papst wird im Vatikan gefangen gesetzt. Die
Päpste stehen bis zum Abschluss der Lateranverträge und der Bildung des
souveränen Vatikanstaates 1929 unter der Herrschaft des italienischen Staates..
- Das II. Vatikanische Konzil (1962-65) ergänzt die „Oberhoheit“ des Papstes
durch die Betonung der Kollegialität der Bischöfe und versteht die Kirche als
„wanderndes“ Gottesvolk, betont das Wort Gottes als Leitschnur für kirchliche
Lehräußerungen, deklariert die Religionsfreiheit und sucht die Verständigung
mit anderen Konfessionen und Religionen. Im Gefolge des Konzils wandelt sich
das Selbstverständnis des Papsttums, besonders unter Papst Franziskus
(dienende Kirche als Zeichen der Barmherzigkeit Gottes).
Beschneidung
Übersehene Aspekte in der öffentlichen Debatte
Es ist erstaunlich, wie wenig in der derzeitigen öffentlichen Debatte über die Beschneidung auf den kultur- und religionsgeschichtlichen Kontext Bezug genommen wird.
Immerhin werden in der FAZ vom 24.7.12 dankenswerterweise die "Szenen einer Beschneidung ägyptischer Männer" auf dem mehr als 4200 Jahre alten "Grab des Doktors" im ägyptischen Sakkara abgebildet. Beschnitten werden dort Männer, nicht Kinder. Im Kommentar der sogenannten "Jerusalemer Bibel" weisen Bibelwissenschaftler darauf hin, dass die Beschneidung vor- bzw. außerbiblisch einen Initiationsritus zu Beginn der Geschlechtsreife als Einführung in die Ehe und das gemeinschaftliche Leben des Stammes darstellt. (Kommentar zu Gen 17,10 und Lev 19,239). Demgegenüber wird im Volk Israel die Tradition der Beschneidung von Knaben kurz nach der Geburt (am achten Tag) durch eine Weisung des Herrn (hebr.: Jahwe / adonai) an Abraham begründet (Gen 17,10): "Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen." Dieser Vorschrift genügen nach dem Lukasevangelium auch die Eltern Johannes des Täufers (Lk 1,59) und die Eltern Jesu (Lk 2,21).
Es liegt nahe, die Beschneidung anhand des Alters, in dem sie vollzogen wird, zu deuten: Wenn sie in beiden Traditionen zunächst einmal allgemein als Einschränkung der persönlichen Souveränität im Bereich der Sexualität, also als "Beschneidung" im übertragenen Sinne, verstanden werden kann, so setzen doch beide Traditionen unterschiedliche Akzente. Die Beschneidung zum Beginn der Geschlechtsreife bedeutet gewissermaßl;en eine "Domestizierung" des aggressiven männlichen Sexualtriebs und des daraus erwachsenden Herrschaftsgebarens des Mannes gegenüber der Frau bzw. eine Begrenzung der männlichen Omnipotenz-Phantasien. Die Beschneidung bald nach der Geburt bringt demgegenüber zum Ausdruck, dass das Kind von Anfang an Gott gehört und in den Bund mit seinem Volk "eingebunden" ist. Die Beschneidung kann dann als ein Opfer "pars pro toto" verstanden werden, nachdem in Israel die in seinem Umfeld weit verbreiteten Kinderopfer ausdrücklich verboten sind. Ein Opfer für Gott soll u.a. zum Ausdruck bringen, dass Menschen Gott als den Herrn über Leben und Tod und sein Verfügungsrecht über jedes Leben einschließl;lich seiner Weitergabe im Sexualakt anerkennen.
In der jungen christlichen Gemeinde entsteht ein heftiger Streit über die Frage, ob Heiden (Nichtjuden), die sich zu Jesus als dem Christus (Messias) bekennen, sich beschneiden lassen müssen. Beim sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem (vermutlich zwischen 47 und 49 n. Chr.) wird beschlossen, den Heidenchristen "diese Last nicht aufzubürden" (Apg 15,10.19.28). Im Römerbrief, im 1. Korintherbrief und im Galaterbrief vertritt der Apostel Paulus mehrfach vehement diese Auffassung, ja es kommt sogar zu einem heftigen Streit zwischen Paulus und Petrus, weil dieser in Antiochia den Beschluss des Apostelkonzils ignoriert und sich aus Furcht vor den Beschnittenen (Judenchristen) sich von den Unbeschnittenen (Heidenchristen) zurückzieht. (Gal 2,11-14) Paulus schreibt: "Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist." (Gal 5,6) - "Denn es kommt nicht darauf an, ob einer beschnitten oder unbeschnitten ist, sondern darauf, dass er eine neue Schöpfung ist." (Gal 6,15) - " Beschneidung ist, was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht." (Röm 2,28)
Wie nun Juden mit der Vorschrift aus dem Buch Genesis umgehen, ist ihre ureigene Sache. Es sei aber darauf hingewiesen, dass es bereits in der hebräischen Bibel eine "vergeistigte" Sicht und damit eine gewisse Relativierung des (wörtlich genommenen) Gebotes der Beschneidung der Vorhaut gibt, wenn es im Deuteronomium, dem 5. Buch Moses, das im Umfeld des babylonischen Exils entsteht, heißl;t: "Ihr sollt die Vorhaut eures Herzens beschneiden lassen und nicht länger halsstarrig sein." (Dtn 10,16) Ferner ebendort: "Der Herr, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen und ganzer Seele lieben können, damit du Leben hast." (Dtn 30,6) Im Judentum bzw. im Hebräischen entspricht das "Herz" etwa unserem "Gewissen". Bemerkenswert ist, dass im 2. Zitat das Subjekt der Beschneidung Gott selbst ist, der also dem Gewissen die Weisung gibt.
Kirche und Sexualität
Kommentar eines orthodoxen Popen im Beichtstuhl zum "Ehebruch" bzw. zur außerehelichen Sexualität: "Das Fleisch ist nicht schwach. Nur das Sakrament kann es beherrschen." (aus dem Film "Doktor Schwiago" nach dem Roman von Boris Pasternak. (Der erste Satz ist eine Anspielung auf das Jesus-Wort: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. - Mt 26,41)
"Da aber kamen Pharisäer zu ihm (Jesus), die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein? (Gen 1,27 und Gen 2,24)? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. (Unterstreichung von mir) Da sagten sie zu ihm: Wozu hat dann Mose vorgeschrieben, dass man (der Frau) eine Scheidungsurkunde geben muss, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war es nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht (Blutschande / Inzest, d.h. nicht erlaubte Ehe) vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch. (Mt 19, 3-9 / par. Mk 10,1-12)
Da sagten die Jünger zu ihm: Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten. Jesus sagte: Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist (Unterstreichung von mir). Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig (gr. eunuchoi), manche sind von Menschen dazu gemacht, und manche haben sich selbst dazu gemacht - um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es (Unterstreichung von mir). (Mt 19,10-12)
"Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Göttersöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel. (Unterstreichung von mir) Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit 120 Jahre betragen. In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer. - Anmerkung von mir: Göttersöhne, Riesen und Helden der Vorzeit sind vermutlich aus dem babylonischen Mythologie übernommene Gestalten. -
Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den Herrn, auf der Erde Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben. Nur Noach fand Gnade in den Augen des Herrn. (Gen 6,1-8)
Anmerkung von mir: Hier folgt die Erzählung über die Sintflut.
"Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage Euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht (eine Frau ansieht, sie zu begehren, so Martin Luther), hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen." (Mt 5, 27.28)
Text-Auswahl: Dr. Siegfried Schröer / www. Schroeer-ebe.de
Ergänzende Texte
Aus der Genesis (nach dem Sündenfall):
"Zur Frau sprach er (Gott): Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen." (Gen 3,16)
"Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört hast und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens." (Gen 3,17)
Aus dem Zehnwort (Dekalog):
"Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört." (Ex 20,17)
Aus der Genesis: Lot in Sodom (und Gomorra):
"Die beiden Engel kamen am Abend nach Sodom. ... Sie waren noch nicht schlafen gegangen, da umstellten die Einwohner der Stadt das Haus, die Männer von Sodom, jung und alt, alles Volk von weit und breit. Sie riefen nach Lot und fragten ihn: Wo sind die Männer, die heute Abend zu dir gekommen sind? Heraus mit ihnen, wir wollen mit ihnen verkehren. Da ging Lot zu ihnen hinaus vor die Tür, schloss sie hinter sich zu und sagte: Aber meine Brüder, begeht doch nicht ein solches Verbrechen! Seht, ich habe zwei Töchter, die noch keinen Mann erkannt haben. Ich will sie euch herausbringen. Dann tut mit ihnen, was euch gefällt. Nur jenen Männern tut nichts an; denn deshalb sind sie ja unter den Schutz meines Daches getreten." (Gen 19, 1 / 19,4-8 / Vgl. Röm 1, 26-27)
Juda, Onan und Tamar
"Juda nahm für seinen Erstgeborenen Er eine Frau namens Tamar. Aber Er, der Erstgeborene Judas, missfiel dem Herrn, und so ließl; ihn der Herr sterben. Da sagte Juda zu Onan: Geh mit der Frau deines Bruders die Schwagerehe ein und verschaff deinem Bruder Nachkommen! Onan wusste also, dass die Nachkommen nicht ihm gehören würden. Sooft er zur Frau seines Bruders ging, ließ er den Samen zur Erde fallen und verderben, um seinem Bruder Nachkommen vorzuenthalten. Was er tat, missfiel dem Herrn, und so ließ er auch ihn sterben." (Gen 38,6-10)
Nota bene: "Sodomie" und "Onanie" sind irrtümliche Bezeichnungen, wie sie häufig (noch) verwendet werden:
Sodomie lt. Duden: Geschlechtsverkehr mit Tieren (statt: Bestialität)
Onanie lt. Duden: geschlechtliche Selbstbefriedigung (statt. Masturbation)
Paulus im 1. Korintherbrief:
"Wegen der Gefahr der Unzucht soll jeder seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben. ... Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein. Dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht in Versuchung führt, wenn ihr euch nicht enthalten könnt. Das sage ich als Zugeständnis, nicht als Gebot. Ich wünschte, alle Menschen wären (unverheiratet) wie ich. Doch jeder hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so. ... Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren. ... Im übrigen soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen hat, wie Gottes Ruf ihn getroffen hat."
(1 Kor 7,2 / 7,5-7 / 7,9 / 7,17)
Distanz und Nähe - Die Herausforderung durch die Pandemie
Die Angst geht um auf der Erde, die Angst vor Ansteckung und Erkrankung an Covid-19. Deshalb gehen wir auf Distanz, müssen wir auf Distanz zu den Mitmenschen gehen, um uns gegenseitig zu schützen. Aber zugleich treiben uns die Fragen um: Wie kommen wir möglichst schnell und unbeschadet aus der Pandemie heraus, damit wir wieder so leben können wie bisher? Wann dürfen wir uns wieder näher kommen? Dann stellt sich aber auch die Frage: Wie nah wollen wir uns kommen und vor allem wem? Dass wir den uns ohnehin "Nahestehenden" auch körperlich wieder näher kommen wollen, liegt auf der Hand. Ihnen sind wir ja innerlich nah geblieben. Aber wie gehen wir mit anderen um, die uns täglich begegnen? Meiden wir - auch ohne Pandemie - nicht eher die Nähe - äußerlich und vor allem innerlich? Lässt uns das Schicksal anderer nicht eher kalt, ja sehen wir in ihnen nicht allzu oft das Fremde, von dem wir uns bedroht fühlen? Und wie schwer fällt es uns, das Anderssein und Andersdenken des Anderen zu akzeptieren oder wenigstens zu verstehen zu suchen! Statt dessen "pflegen" wir unsere Vorbehalte und Vorurteile.
Wie wäre es, wenn wir uns auf folgendes Szenario einlassen würden: Zwei Menschen sind unterwegs und haben gerade Entsetzliches erleben müssen. Ein unschuldiger, von ihnen über alles geliebter und geschätzter Mensch ist vor ihren Augen auf grausamste Weise zu Tode gequält worden. Und sie mussten tatenlos zusehen, haben sich dann aber versteckt, um nicht dasselbe Schicksal erleiden zu müssen. Nicht genug damit: Sie sind zutiefst enttäuscht und deprimiert. Alle ihre Hoffnungen, die sie auf den Getöteten gesetzt haben, haben sich nicht erfüllt, die von ihnen nahe gewähnte Rettung aus Verfolgung und Unterdrückung hat sich als Illusion erwiesen. Diese bittere Erfahrung machen Tausende und Abertausende jeden Tag. Sei es, dass sie Entsetzliches leiden müssen durch Naturkatastrophen, durch von Menschen gemachte Kata- strophen, durch Kriege, durch Terror und Vertreibung, durch Krankheiten, durch Epidemien oder seelische Zusammenbrüche.
Was tun die beiden Menschen auf dem Weg, denen der Schrecken noch immer "in den Knochen" steckt? Sie sprechen miteinander über das Entsetzliche. Da naht sich ihnen ein Fremder, er hört ihnen zu und lässt sich das Schreckliche erzählen, was sie erlebt haben. Er tröstet sie und deutet ihnen das Geschehene. Er kehrt mit ihnen ein und hält Mahl mit ihnen. Die Begegnung mit ihm verwandelt sie. Sie überwinden Trauer und Angst und machen sich (gegen alle Vernunft) in der Nacht auf den (Rück-)Weg, zu ihrer Gemeinschaft. Um eine solche Begegnung geht es in der Erzählung von den Emmaus-Jüngern (Lk 24,13-35. Sie eröffnet eine neue Perspektive: Wenn wir im Leid, auch in der Epidemie niemand allein lassen, wenn wir die Klagen der Leidenden hören und nicht weg-hören, die Distanz, die Fremdheit überwinden, geht der Herr, Jesus Christus, mit uns und bleibt bei den Leidenden. So ist die Corona-Krise auch eine Herausforderung für den Glauben und die Gemeinschaft der Glaubenden, eine Bewährungsprobe für die Kirche und ein Anlass, erneut über unser Gottesbild nachzudenken.
Es reicht nicht, in der Kirche "das Kreuz zu predigen". Es gilt, im Kreuz Jesu die millionenfachen Kreuze in dieser Welt zu sehen und das eine oder andere Kreuz mitzutragen. Wir können das Leid dadurch nicht aus der Welt schaffen, es allenfalls erträglicher machen. Und die Frage nach dem "Warum" bleibt, und wir bekommen sie nicht beantwortet. Aber wir dürfen, ja müssen sie herausschreien wie Jesus am Kreuz, denn Gott ist in unser Leiden involviert - aktiv und passiv, indem er sich auf seine weiter gehende, noch nicht vollendete Schöpfung eingelassen hat, die nach Paulus noch "in Geburtswehen liegt und auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes harrt" (Rö 8,22), und er sich damit als mitgehender Gott auch auf unsere Leidensgeschichte eingelassen hat.
N.B.: Könnte es sein, dass viele Menschen den Glauben an (den gütigen) Gott auch deshalb verloren haben, weil sie es unerträglich finden, dass dem / den Menschen im Sinne der Erbsündenlehre die ganze Schuld für die Misere dieser Welt "in die Schuhe geschoben" und damit die Sünden- und Kreuzestheologie in eine Schieflage gebracht wird?
Dr. Siegfried SchröerDr. Siegfried Schröer
Eucharistie
I. Biblischer Befund
Eucharistie bedeutet Danksagung. In allen vier überlieferungen (Mk, Mt, Lk, Paulus / 1. Kor 11) nimmt Jesus beim Abendmahl das Brot, spricht darüber das Dank- (oder Segens-) Gebet oder den Lobpreis, bricht es, gibt es seinen Jüngern (den Zwölf, den Aposteln), fordert sie auf, zu nehmen (und zu essen) und sagt dann: "Dies ist mein Leib." - bei Lk mit dem Zusatz "der für euch hingegeben wird." - bei Paulus mit dem Zusatz "für euch". Bei Lk und Paulus fordert er sie außerdem auf, dies zu seinem ?Gedächtnis? (gr. anamnesis, lat. memoria) zu tun. Der Leib steht für den ganzen Menschen, und das Brotwort heißt m.a.W. "Dies bin ich." (s.u. zur "eucharistischen" Rede in Jh 6).
Danach nimmt Jesus den Kelch und spricht auch darüber das Dankgebet. Das Weitere ist in vier unterschiedlichen Fassungen überliefert: 1. Mt: "Er (Jesus) gab ihnen denselben und sagte: Trinket alle daraus! Denn das ist mein Blut des Bundes, das für viele / alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden." 2. Mk: "Er (Jesus) gab ihnen denselben; und sie tranken alle daraus. Und er sprach: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele / alle vergossen wird." 3. Lk: "Er (Jesus) sagte: Nehmt ihn (den Kelch) und teilt ihn unter euch!" - Bei Lk folgen danach erst das das Brotwort und die Austeilung des Brotes. Nach dem Mahl nimmt Jesus erneut einen Kelch (vermutlich den beim Paschamahl üblichen sog. Segenskelch) und sagt: "Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, das für euch vergossen wird." 4. Paulus: "Desgleichen (nahm er) auch den Kelch nach dem Essen, indem er sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute; das tut, sooft ihr (daraus) trinkt zu meinem Gedächtnis!" Auch das Blut steht für den ganzen Menschen, und Blut bedeutet Leben, und das Kelchwort heißt m.a.W.: "Ich gebe mein Leben - mich selbst - für euch und viele/alle hin."
Weder das Wort "Gedächtnis" noch das Wort "Erinnerung" geben angemessen wieder, was das griechische Wort "anamnesis" - wie übrigens auch das entsprechende Wort im Hebräischen - beinhaltet, nämlich: einen bleibende Vergegenwärtigung des ein für allemal Geschehenen und keine Wiederholung (!); man kann das Jesus-Wort auch so deuten: "Tut dies in meinem Geist, meiner Gesinnung, in der inneren ("mystischen") Verbindung mit mir - dem Dienenden, der sein Leben für das Heil der Menschen hingegeben hat." - Vgl. das Jesus- Wort: "Ich bin unter euch als einer der dient." (Lk 22,27) Und das Paulus-Wort: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir." (Gal 2,20)
Das Johannesevangelium, das keinen Abendmahlsbericht kennt, bietet uns dazu mit dem Bericht über die Fußwaschung eine sinnenfällige Deutung: "Es fand ein (!) Mahl statt. ... Jesus stand vom Mahl auf und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und sie mit dem Schurz zu trocknen, mit dem er umgürtet war." ... Dann deutet er selbst sein Handeln: "Wenn nun ich, der Herr, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr einander die Füße waschen, denn ein Vorbild habe ich euch gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe." (Jh 13,2.4ff) In der johanneischen sog. "eucharistischen Rede" in Jh 6 macht Jesus unmissverständlich klar, was er mit dem Brotwort meint: "Mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot Gottes ist derjenige, der (!) aus dem Himmel herabkommt und der Welt Leben gibt. ... Ich bin das Brot des Lebens. ... Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist.( Jh 6,32.35.51)
D.h. also Gottes Sohn, Jesus Christus, ist in unsere Welt gekommen, um sein Leben mit uns zu teilen, mit uns zu leben, zu leiden und zu sterben. Sein Kreuzestod ist die letzte Konsequenz dieses Lebens der Hingabe. "Beim Eintritt in diese Welt spricht er: 'Opfer und Gaben hast du nicht gewollt; einen Leib aber hast du mir bereitet. An Brandopfern und Ganzopfern um der Sünde willen hast du kein Wohlgefallen. ... Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun' ". (Hebr. 10,5-7)
II. Deutung vor dem Hintergrund der Tradition
1. In alten Traditionen in verschiedenen Kulturen dienen das Mahl und im besonderen das Brot nicht nur der Nahrung und der Sättigung des einzelnen, sondern sie verbinden auch Menschen und stiften Gemeinschaft. In diesem Sinne feiert Jesus immer wieder das Sättigungsmahl mit seinen Jüngern, als offene Mahlgemeinschaft aber auch mit Sündern, Zöllnern und Pharisäern (Lk 7, Mt 9, Lk 19, Vgl. auch Mt 11,19) und setzt damit ein Zeichen für die angebrochene Gottesherrschaft.
2. In Israel hatte das Mahl im Zusammenhang mit dem Exodus aus ägypten schon eine darüber hinausgehende besondere Bedeutung: Es wird zum Zeichen des Bundes Gottes mit seinem Volk und einer unverbrüchlichen Volksgemeinschaft und seitdem als Paschamahl (hebr. Pessach) jährlich gefeiert. Für Juden war und ist das Dank- bzw. Segensgebet vor dem Essen unerlässlich, denn Gott ist nicht nur der Schöpfer des Lebens, sondern auch der Retter aus der Knechtschaft. Dieser Dank (Segen, auch Lobpreis) gehört also zum Grundbestand des Abendmahlsgeschehens. Jesus verhält sich also wie jeder fromme Jude.
3. Indem er dann das Brot bricht und den Jüngern (zu essen) gibt, und sie gemeinsam von ein und demselben Brot essen (wie sie nachher aus einem Kelch trinken), feiert er mit ihnen ihre Gemeinschaft, aber auch die bleibende Verbundenheit mit dem Bundes-Volk Israel. Aber er geht darüber hinaus, indem er "einen neuen Bund in seinem Blut" (Lk und Paulus) bzw. mit "seinem Blut des Bundes" (Mt und Mk) stiftet, und mit seinem Leben eine aufs Ganze gehende Glaubens- und Lebensgemeinschaft - seine Gemeinde - begründet.
Wenn wir also an diesen Tisch geladen werden, lassen wir uns auf eine Lebensgemeinschaft ein, in der Gott selbst der Lebenspendende ist, dem unser Dank und Lobpreis gilt. Deshalb ist also das ?Abendmahl Jesu? (in der frühen Kirche auch "Herrenmahl" und "Eucharistie", später - ab 600 etwa - auch "Hl. Messe", lat. "missa" / Sendung, seit dem Hochmittelalter auch "Sakrament des Altares" genannt) von Gottes Seite her Geschenk bzw. Gnade, von unserer Seite aber ?Eucharistia?: Danksagung, indem wir es dankbar annehmen.
III. Weiterentwicklung der Eucharistie-Theologie und -Frömmigkeit
Mit dem Anwachsen der Kirche zur Volkskirche und der Entstehung von größeren Gemeinden treten neue Fragen und Probleme, aber auch Fehlentwicklungen auf. Schon Paulus muss seine Gemeinde in Korinth ermahnen, das "Herrenmahl" vom Sättigungsmahl zu unterscheiden und die "Agape" (das Liebesmahl nach dem Herrenmahl) nicht zu missbrauchen (1 Kor 11), indem manche nur auf ihre Sättigung bedacht sind und nicht mit anderen teilen, was sie haben. (Eine besondere Problematik entsteht schon in der Zeit der Verfolgung - bis 313 - durch Frage nach der Leitung der Gemeinde und der Eucharistie und damit auch der Entstehung der Priesterweihe und ihrer engen Verknüpfung mit der Eucharistiefeier. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.)
Durch die große Zahl der Mitfeiernden aber stellt sich immer mehr die Frage, ob die "Kelchkommunion" aus praktischen und hygienischen Gründen nicht auf die "Geweihten" beschränkt werden sollte, dieweil ja auch im Brot allein der "ganze" Christus präsent sei und empfangen werden könne. Dann wird auch die Frage immer dringlicher, ob jeder Gläubige "die geistliche Kompetenz" für die "Konsekration" der Gaben von Brot und Wein habe und nicht die Gefahr von "Unregelmäßigkeiten" bestehe. Es kommt zu einer Sakralisierung des Amtes ("Weihe"). Das trägt dann aber mit dazu bei, dass die Sonderstellung der Priester zu einer "Klerikalisierung" und schließlich zu einer gewissen Entmündigung der Laien führt.
Verstärkt wird dann im hohen Mittelalter die Frage virulent, w i e denn Brot- und Kelchwort zu verstehen seien. Nicht zuletzt nehmen in der Volksfrömmigkeit bedenkliche an magischen Vorstellungen orientierte Frömmigkeitsformen zu. ("Mit der Hostie hat man Jesus und damit Gott "in der Hand"). In der Scholastik wird dann nach heftigen Debatten unter Theologen die Frage mit der sog. "Transsubstantiationslehre" beantwortet, die durch das 4. Laterankonzil 1215 bestätigt wird. Diese. Lehre steht und fällt aber mit der Bedeutung des leicht falsch zu verstehenden Begriffs "Substanz". Er meint keineswegs die "Materie" von Brot und Wein, (die Akzidentien) sondern das "Wesen"! Es ändert sich also in der Eucharistie bei der "Wandlung", bei der "Hinüber-Führung" (hinüber: lat. trans) das Wesen von Brot und Wein - und zwar bleibend. Brot und Wein dienen nun nicht der leiblichen Sättigung und der Stiftung rein menschlicher Gemeinschaft - s.o. - , sondern der geistig-seelischen in der Vereinigung ("Kommunion") mit Christus. So ist auch die Realpräsenz Christi im "Sakrament des Altares" zu verstehen - "real" - aber nicht materiell zu verstehen! Dass das konsekrierte Brot ein für alle Mal "Leib Christi" bleibt, wird verdeutlicht durch die zwingend vorgeschriebene Aufbewahrung im "Tabernakel" (lat. Zelt) oder im "Sakramentshäuschen" - verbunden mit dem "ewigen Licht" (woran ja bis heute sofort eine katholische Kirche erkennbar ist). Der Wein muss vollständig konsumiert also ausgetrunken oder der Erde zurückgegeben werden, darf also keineswegs in den Schrank zurückgestellt werden. Man kann diese Regelungen auch der "Arkandisziplin" zuordnen (das "Arkanum", das Heilige muss heilig gehalten und darf nicht profaniert werden.) Außerdem kann das konsekrierte Brot - die Hostie - so jederzeit den Kranken und Sterbenden gebracht werden, so dass sie an der eucharistischen Gemeinschaft teilhaben können.
Dieser Glaube an die bleibende Realpräsenz Christi führt dann im Hochmittelalter zu besonderen eucharistischen Frömmigkeitsformen wie dem Fronleichnamsfest und der Prozession mit dem "Allerheiligsten" durch die Städte, Dörfer und Felder. ("Fest des Leibes und Blutes unseres Herrn Jesus Christus"), zur Verehrung des konsekrierten Brotes in der "Monstranz" (von lat. "monstrare", zeigen), die sogenannte eucharistische Anbetung vor der (ausgesetzten) Monstranz und zum eucharistischen Segen mit der Monstranz. Zu einer einseitigen Betonung dieser Frömmigkeitsformen trugen auch die übertriebene Scheu vor dem Empfang des Sakraments bzw. der Kommunion bei, weil der nur im "Stande der Gnade" bzw. nach der Beichte erlaubt war. Diese einseitige Entwicklung ist durch das 2. Vatikanische Konzil revidiert worden.
In der Reformationszeit kommt es über die "Realpräsenz Jesu Christi" bei diesem Sakrament zu heftigen Kontroversen, die bis heute nicht behoben sind. Während Luther sie nur für den Vollzug des Mahles als gegeben ansieht und die Transsubstantiationslehre ablehnt, hält die römische Kirche an der permanenten, fortdauernden Präsenz fest (s.o.). Die reformierten Kirchen (nach Zwingli und Calvin) sprechen von einer nur symbolischen Gegenwart im Abendmahl als Erinnerungsmahl. Auch die Kontroverse zwischen Luther und Zwingli beim Religionsgespräch in Marburg 1529 ist bis heute nicht völlig beseitigt, dieweil aber mittlerweile das gemeinsame Abendmahl von Lutheranern und Reformierten gängige Praxis ist, besonders in der unierten Kirche der von König Friedrich Wilhelm III. dekretierten "altpreußischen Union".
Christen und Juden
Die Trennung der christlichen Gemeinde vom Judentum in der Zeit der Urkirche und eine erneute Annäherung heute - nach der ShoaProlog
"Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind." Dieser geradezu unglaubliche Satz des Apostels Paulus steht am Anfang des neunten Kapitels des Briefs an die Römer. Zwei deutschsprachige jüdische Dichter, Franz Werfel (1883-1945) und Alfred Döblin (1878-1957), die beide vor dem NS-Staat in die USA geflohen sind, empfinden die Trennung der christlichen Gemeinde/Kirche vom Judentum/Volk Israel ähnlich wie Paulus. Während Franz Werfel sehr mit dem katholischen Glauben sympathisiert, aber den letzten Schritt zur Konversion nicht geht, konvertiert Alfred Döblin im Exil zur katholischen Kirche, was ihm den bitterbösen Spott von Bert Brecht (1898-1956) einbringt. Franz Werfel nennt die Trennung eine Tragödie. Er schreibt dazu in den zwanziger Jahren ein Drama, das drei Teile umfassen sollte, das aber nur im ersten Teil ("Paulus unter den Juden") realisiert worden ist (1926) und nur wenig Resonanz gefunden hat. Er musste es in seiner intellektuellen Umgebung gegen seine eigene Überzeugung als psychologisches Drama ausgeben, das nicht als religiös im Sinne einer Konfession oder Glaubensrichtung zu verstehen sei.
In dem Drama steht neben Paulus dessen Lehrer Gamaliel im Mittelpunkt, der seinen Schüler für den Glauben Israels - für die Thora - zurückgewinnen möchte, der aber andererseits Paulus davon abrät, Stephanus steinigen zu lassen. Paulus wiederum trauert Gamaliel als der "untergehenden Sonne Israels" nach, während Jesus von Nazareth als die neue Sonne über den Völkern aufgeht.
1. Kap. Gamaliel
Dieser Gamaliel spielt in der Apostelgeschichte eine bemerkenswerte Rolle, als sich der Konflikt zwischen den Aposteln und dem Hohen Rat zuspitzt (Apg 5): Nachdem die Apostel wegen der Zeichen und Wunder, die sie wirkten, vom Hohenpriester und den Sadduzäern (der Priesterklasse) aus Eifersucht ins Gefängnis geworfen, dann aber von einem Engel des Herrn befreit worden waren und wiederum im Tempel predigten, "ging der Tempelhauptmann mit seinen Leuten hin und holte sie, allerdings nicht mit Gewalt, denn sie fürchteten vom Volk gesteinigt zu werden. Man führte sie herbei und stellte sie vor den Hohen Rat. Der Hohepriester verhörte sie und sagte: Wir haben euch streng verboten, in diesem Namen (Jesus) zu lehren; ihr aber habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt; ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ans Holz gehängt und ermordet habt. Ihn hat Gott als Herrscher und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken. Zeugen dieser Ereignisse sind wir und der Heilige Geist, den Gott allen verliehen hat, die ihm gehorchen. Als sie das hörten, gerieten sie in Zorn und beschlossen, sie zu töten. Da erhob sich im Hohen Rat ein Pharisäer namens Gamaliel, ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer; er ließ die Apostel für kurze Zeit hinausführen. Dann sagte er: Israeliten, überlegt euch gut, was ihr mit diesen Leuten tun wollt. Vor einiger Zeit nämlich trat Theudas auf und behauptete, er sei etwas Besonderes. Ihm schlossen sich etwa 400 Männer an. Aber er wurde getötet, und sein ganzer Anhang wurde zerstreut und aufgerieben. Nach ihm trat in den Tagen der Volkszählung Judas, der Galiläer auf; er brachte viel Volk hinter sich und verleitete es zum Aufruhr. Auch er kam um, und alle seine Anhänger wurden zerstreut. Darum rate ich euch jetzt: Lasst von diesen Männern ab und gebt sie frei; denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten; sonst werdet ihr noch als Kämpfer gegen Gott dastehen. Sie stimmten ihm zu, riefen die Apostel herein und ließen sie auspeitschen; dann verboten sie ihnen, im Namen Jesu zu predigen und ließen sie frei. Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden. Und Tag für Tag lehrten sie unermüdlich im Tempel und in den Häusern und verkündeten das Evangelium von Jesus, dem Christus." (Apg 5,26-42)Hier zeigt sich, dass es sich (noch) um einen innerjüdischen Konflikt handelt, in dem es verschiedene Stimmen und Gruppierungen gibt, dass immer wieder "Messias-Prätendenten" auftauchen, aber auch die führenden Männer um ihre Macht bzw. ihren Einfluss im Volk fürchten. Andererseits zählen sich die Apostel nach wie vor zum Volk Israel, das sie zu Jesus, dem Christus führen wollen. Deutlich wird hier auch, dass etliche Mitglieder des Hohen nicht von ungefähr in Jesus einen weiteren selbsternannten Messias vermuten, gegen den sie wegen Gotteslästerung zu recht meinen vorgehen zu müssen.
2. Kap. Stephanus
Die Ermordung des Stephanus, an der Paulus (Saulus) maßgeblich beteiligt ist (Apg 7,58 und 8,1a), deutet auf eine zunehmende Entfremdung zwischen der Jesus-Gemeinde und der (den) Synagogen-Gemeinde(n) - u.a. hellenistischen - hin. Stephanus verteidigt sich vor dem Hohen Rat, den er noch mit "Brüder und Väter" anredet, mit seiner großen heilsgeschichtlichen Rede (Apg 7,1-53), aber seine Anklage gegen den Hohen Rat bringt diesen heftig gegen ihn auf: "Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure (!) Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, ihr, die ihr durch die Anordnung von Engeln das Gesetz empfangen, es aber nicht gehalten habt." (Apg 7,51-53) Seine vor dem Hohen Rat ausgesprochene Vision vom Menschensohn (Apg 7,57-60) bringt "das Fass zu Überlaufen" und führt direkt zu seiner Steinigung und zu einer anschließenden "schweren Verfolgung und versuchten Vernichtung der Kirche in Jerusalem durch Paulus (Saulus) und zur Zerstreuung der Gläubigen in Judäa und zur Flucht nach Samarien "(Apg 8,1b-3). Viele fliehen dann auch nach Syrien, wo Antiochia zu einem neuen Zentrum der Jesusgemeinde wird und zum Ausgangspunkt der Heidenmission (s.u.).3. Kap. Paulus
Nach seiner Bekehrung (Apg 9,1-19) beginnt Paulus (Saulus) unverzüglich mit der Verkündigung des Evangeliums von Jesus ("Er ist der Sohn Gottes.") und bringt die Juden in Damaskus dadurch in große Verwirrung und sie beschließen nach einiger Zeit, ihn zu töten. (Apg 9,23) In Jerusalem, wo er inzwischen "bei den Aposteln ein und ausgeht", führt er Streitgespräche mit den Hellenisten, die ebenfalls planen, ihn zu töten (Apg 9, 28.29). Offensichtlich handelt es noch um Minderheiten, während die Zahl der zu Jesus bekehrten Juden weiter zunimmt. (Apg 9,31 / 11, 21.24 / 12,24) Die Bedrohung, der Paulus ausgesetzt ist, veranlasst "die Brüder", ihn in seine Heimat Tarsus zu schicken, während sich in Antiochia in Syrien eine neue Gemeinde (aus vertriebenen Jüngern) etabliert, wo "auch den Griechen das Evangelium von Jesus verkündet wird und die Jünger zum ersten Mal Christen genannt werden." (Apg 11,20. 26) Barnabas aus Zypern, "ein trefflicher Mann, erfüllt vom Heiligen Geist und von Glauben" holt Paulus (Saulus) aus Tarsus nach Antiochia und sie verkündigen gemeinsam das Evangelium. "Am folgenden Sabbat versammelte sich die ganze Stadt, um das Wort des Herrn zu hören. Als die Juden die Scharen sahen, wurden sie eifersüchtig, widersprachen den Worten des Paulus und stießen Lästerungen aus. Paulus und Barnabas aber erklärten freimütig: Euch musste zuerst das Wort verkündet werden. Da ihr es aber zurückstoßt und euch des ewigen Lebens unwürdig zeigt, wenden wir uns jetzt an die Heiden. Denn so hat uns der Herr aufgetragen: Ich habe dich zum Licht für die Völker gemacht, bis an das Ende der Erde sollst du das Heil sein. (Jes 47,6;49,6) Als die Heiden das hörten, freuten sie sich und priesen das Wort des Herrn, und alle wurden gläubig, die für das ewige Leben bestimmt waren. Das Wort des Herrn aber verbreitete sich in der ganzen Gegend. Die Juden jedoch hetzten die vornehmen gottesfürchtigen Frauen und die Ersten der Stadt auf, veranlassten eine Verfolgung gegen Paulus und Barnabas und vertrieben sie aus ihrem Gebiet." (Apg 13,44-50) Paulus und Barnabas aber zogen nach Ikonium und Lystra, wurden aber weiter verfolgt: "Aus Antiochia und Ikonium aber kamen Juden und überredeten die Volksmenge, und sie steinigten den Paulus und schleiften ihn zur Stadt hinaus, in der Meinung, er sei tot. Als die Jünger ihn umringten, stand er auf und ging in die Stadt." (Apg 14, 19.20) Damit ist die Spaltung zwischen Juden und Christen unübersehbar geworden. Sie findet dann gewissermaßen ihre Bestätigung durch das sogenannte Apostelkonzil in Jerusalem (49/50), bei dem die Streifrage geklärt wird, ob Heiden durch die Beschneidung zunächst Juden werden müssen, bevor sie durch die Taufe zu Christen werden können. Die Entscheidung ist eindeutig. Sie müssen es nicht. (Apg 15,1-29). So wird es mit aller Entschiedenheit durch Paulus und alle Apostel verkündet. Da die Juden an der Beschneidung festhalten, ist damit auch rituell die Trennung bzw. Spaltung vollzogen, deren eigentlicher Kern aber bleibt die Verehrung Jesu von Nazareth als Gottessohn und sein Selbstzeugnis, wie es vor allem im Johannesevangelium verkündet wird (u.a. in den "Ich-bin-Sätzen", Kap. 6;8;10;11;14;15) - Dieser Ablösungsprozess vollzieht sich allmählich in einem Zeitraum von ca. 60 Jahren, vergleichbar mit den späteren Spaltungen in der christlichen Kirche.Einen deutlichen Trennungsstrich zwischen Christen und Juden hat Paulus dann im Galaterbrief (um 50 geschrieben) gezogen - nicht zuletzt mit der allegorischen Auslegung der Geschichte von Sarah und Hagar (Kap. 4,21-26 und 31): "In der Schrift wird gesagt, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin, den anderen von der Freien. Der Sohn der Sklavin wurde auf natürliche Weise gezeugt, der Sohn der Freien aufgrund der Verheißung. Darin liegt ein tieferer Sinn: Diese Frauen bedeuten die beiden Testamente. Das eine Testament stammt vom Berg Sinai und bringt Sklaven zur Welt; das ist Hagar - denn Hagar ist die Bezeichnung für den Berg Sinai in Arabien -, und ihr entspricht das gegenwärtige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt. Das himmlische Jerusalem aber ist frei, und dieses Jerusalem ist unsere Mutter. ... Daraus folgt also, das wir nicht Kinder der Sklavin sind, sondern Kinder der Freien." - Und im Kap. 5 wendet sic Paulus direkt an die Galater, die meinen, sich an das Gesetz, u.a. die Beschneidung halten zu müssen: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. ... Lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen! ...Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. ...Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun."
Für Paulus ist damit aber nicht das letzte Wort gesprochen, wie er besonders in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes (geschrieben um 58) ausführt (s.u.).
4. Kap. Das "Ölbaum-Gleichnis"
In den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs (um 58 geschrieben) geht sein ganzes Bemühen dahin, aufzuweisen, dass Israel nicht von Gott auf immer verstoßen ist und er den Bund mit seinem Volk nicht aufgekündigt hat. Wie sehr er unter der Trennung leidet, wird an seiner Äußerung deutlich, dass auf er auf sein ewiges Heil verzichten würde, wenn dadurch sein Volk gerettet würde: "Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Sie sind Israeliten, damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz (die Thora) gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Röm 9,1-5)"Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin. Gott hat sein Volk nicht vertoßen (Ps 94,14) - dort heißt es allerdings; er wird sein Volk nicht verstoßen), das er einst erwählt hat. Röm 11,1-2) ... Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen? Keineswegs! Vielmehr kam durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden, um sie selbst eifersüchtig zu machen. Wenn aber schon durch ihr Versagen und durch ihr Verschulden die Heiden reich werden, dann wird das erst recht geschehen, wenn ganz Israel zum Glauben kommt." (Röm 11,11-12) (Hintergrund dieser Aussage ist der Verweis auf die Elia-Geschichte, dass siebentausend Männer übriggeblieben sind, die ihr Knie nicht vor Baal gebeugt haben und Jahwe die Treue gehalten haben - der sogenannte "Rest, der aus Gnade erwählt ist".)
"Euch, den Heiden sage ich: Gerade als Apostel der Heiden preise ich meinen Dienst, weil ich hoffe, die Angehörigen meines Volkes eifersüchtig zu machen und wenigsten einige von ihnen zu retten." (Röm 11, 13) ... "Wenn die Wurzel heilig ist, so sind es auch die Zweige, Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erbebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Nun wirst du sagen: Die Zweige wurden doch herausgebrochen, damit ich eingepfropft werde. Gewiss, sie wurden herausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Du aber stehst an ihrer Stelle, weil du glaubst. Sei daher nicht überheblich, sondern fürchte dich! Hat Gott die Zweige, die von Natur zum edlen Ölbaum gehören, nicht verschont, so wird er auch dich nicht verschonen.
Erkenne die Güte Gottes und seine Strenge! Die Strenge gegen jene, die gefallen sind, Gottes Güte aber gegen dich, sofern du in seiner Güte bleibst; sonst wirst auch du herausgehauen werden. Ebenso werden jene, wenn sie nicht am Unglauben festhalten, wieder eingepfropft werden; denn Gott hat die Macht, sie wieder einzupfropfen. Wenn du aus dem von Natur wildem Ölbaum herausgehauen und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, dann werden erst recht sie als die von Natur zugehörigen Zweige ihrem eigenen Ölbaum wieder eingepfropft werden." (Röm 11,16-24)
5. Kap. "Ghetto" und "Shoa"
Gleichwohl schreitet die Trennung voran und vollzieht sich auch äußerlich. Die Judenchristen beteiligen sich 70 n.Ch. nicht am jüdischen Aufstand und fliehen aus Jerusalem und Judäa nach Pella im Norden Palästinas. Nach dem Krieg und der Zerstörung des Tempels durch den Heerführer Titus, den späteren Kaiser, werden viele Juden in weite Teile des Mittelmeerraums verstreut und nach dem Bar-Kochba-Aufstand 130 alle Juden aus der römischen Provinz Judaia verbannt. Bis zur Beendigung der Christenverfolgung 313 werden Christen und Juden im römischen Reich als jüdische Sekten angesehen, die ständig wachsende Zahl der Christen immer wieder heftig verfolgt, während die Juden als eher unbedeutende Sekte weitgehend unbehelligt bleiben. Als aber das Christentum nach der sogenannten konstantinischen Wende einen großen Zulauf erfährt und nach und nach als politische Macht im römische Reich aufsteigt und im 6. Jahrhundert zur allein anerkannten Religion wird, gerät die jüdische Bevölkerung immer mehr an den Rand der Gesellschaft, zumal die meisten unbeirrt am Verdikt über Jesus von Nazareth festhalten, so zu lesen etwa im Talmud (der nachbiblischen Sammlung jüdischen geistlichen Schrifttums): "Er (Jesus) wurde gesteinigt und schließlich als falscher Prophet gehängt, weil er Israel zum Götzendienst verführt und sich als Messias ausgegeben hat." (Traktat Sanhedrin 43a / (Vgl. Mt 26,65) Entsprechend werden die Juden von der christlichen Mehrheitsgesellschaft als Volk der Christus-Mörder gebrandmarkt, zum Sündenbock für alles und jedes gemacht, in Ghettos eingesperrt oder des Landes verwiesen und schließlich in Pogromen blutig verfolgt. An diesen mehr oder weniger latenten, aber auch immer wieder offen zu tage tretenden Antisemitismus, der auch den religiösen Antijudaismus mit einschließt, kann der NS-Staat anknüpfen mit seiner Judenverfolgung und der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" in den Konzentrations- und Vernichtungslagern.Die von NS-Deutschland geplante und schon in Gang gesetzte totale Vernichtung des jüdischen Volkes erfolgt neben den Konzentrationslagern auf polnischem Boden, vor allem in Auschwitz, aber auch in Ghettos wie in Warschau. Der jüdische Autor Zwi Kolitz (*1919 in Litauen, + 2002 in New York) hat 1946 einen Text verfasst, in dem er sich in die Seele des jüdischen Widerstandskämpfers Jossel Rakover im Warschauer Ghetto versetzt und mit Gott hadern lässt wie Hiob, aber noch eindringlicher und radikaler und damit das eigentliche Ausmaß der Vernichtung zur Sprache bringt:
"Ich glaube an den Gott Israels, wenn Er auch alles getan hat, dass ich nicht an ihn glauben soll. Ich glaube an Seine Gesetze (eigentlich die Tora), auch wenn ich seine Taten nicht rechtfertigen kann. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm nicht mehr die eines Knechtes zu seinem Herrn, sondern wie die eines Schülers zu seinem Lehrer. Ich beuge mein Haupt vor seiner Größe, aber ich werde die Rute nicht küssen, mit der er mich schlägt. Ich habe ihn lieb. Doch seine Tora habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in Ihm getäuscht hätte, Seine Tora werde ich weiter hüten. Gott heißt Religion. Seine Tora aber bedeutet Lebensweise! Und je mehr wir sterben für diese Lebensweisung, so unsterblicher wird sie.
Darum erlaube mir, Gott, vor meinem Tod, völlig frei von jeder Angst, ohne den geringsten Schrecken, in einer Lage absoluter Ruhe und Sicherheit, Dich zur Rede zu stellen, ein letztes Mal in meinem Leben.
Du sagst, dass wir gesündigt haben? Aber natürlich! Und dafür werden wir bestraft? Auch das kann ich verstehen. Ich will aber, das Du mir sagst, ob es eine Sünde auf der Welt gibt, die eine solche Strafe verdienst, wie wir sie bekommen haben! ... Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alle getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich immer gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.
Gelobt soll sein auf ewig der Gott der Toten, der Gott der Vergeltung, der Wahrheit und des Gerichts, der bald sein Gesicht wieder vor der Welt enthüllen wird und mit seiner allmächtigen Stimme ihre Fundamente erschüttert.
"Schma Israel! Höre, Israel! Der Herr unser Gott, der Herr ist Einer! In Deine Hände, o Herr, empfehle ich meinen Geist."
6. Kap. "Ich bin Josef, euer Bruder". (1) (Johannes XXIII.)
Wie aber sollen Juden zum Glauben (an Jesus, den Christus) kommen, nachdem Christen, nicht zuletzt "Deutsche Christen", sie jahrhundertelang verachtet, diskriminiert, schikaniert, gefoltert und aufs grausamste Weise umgebracht, ja versucht haben, das ganze jüdische Volk zu vernichten (durch die Shoa, was Vernichtung bedeutet)? Wie aber können wir Christen nach diesem Menschheitsverbrechen zur Tagesordnung übergehen, ohne uns zu "bekehren" und mit einem anderen Blick auf die Juden zu sehen? Nach der Shoa ist es an der Zeit, dass wir Christen in bezug auf die Juden umdenken und eine Theologie (besonders eine Christologie) "nach Auschwitz" entwickeln, bevor wir weiterhin Jesus von Nazareth in / mit seinem Volk kreuzigen (und sei es diskriminieren) und unser eigenes Heil über das Heil seines (nach wie vor auserwählten) Volkes setzen. Nur auf dem Weg mit Jesus in seiner gelebten Nachfolge können wir beitragen zur endgültigen Rettung seines Volkes.Der erste Schritt ist oder kann sein, zu akzeptieren, dass "der Glaube Jesu uns einigt, der Glaube an Jesus uns aber trennt." (so Schalom Ben- Chorin , * 1913 in München, jüdischer Religionswissenschaftler) in: "Bruder Jesus, der Nazarener in jüdischer Sicht", München 1977
Gleichwohl gibt es inzwischen auch zahlreiche christliche Theologen (inkl. des kath. Lehramts), die es für die Verständigung als unabdingbar ansehen, Jesus zuerst entschiedener auf dem Weg seines Glaubens zu folgen, d.h. vor allem ihm in seinem vorbehaltlosen Vertrauen auf Gott, wie er als Jahwe, als Gott der Väter in der Tora erscheint, zu folgen. Das II. Vatikanische Konzil formuliert es wie folgt: "Deshalb kann die Kirche nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbaren Erbarmen den Alten Bund zu schließen sich gewürdigt hat, die Offenbarung des Alten Testaments empfing und von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als Wildlinge eingepfropft sind, genährt wird. Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels vor Augen, der von seinen Stammesverwandten sagt, dass 'ihnen die Annahme an Sohnes Statt und Glorie und Bund und das Gesetz (die Thora), der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter, und dass aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt ' (Röm 9,4-5), der Sohn der Jungfrau Maria. Auch hält sie sich gegenwärtig, dass aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten der ersten Jünger, die das Evangelium Christi in der Welt verkündet haben. Wie die Schrift bezeugt, hat Jerusalem die Zeit der Heimsuchung nicht erkannt (Lk 19,44), und ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen, ja nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt. Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis des Apostels immer noch Gottes Lieblinge um der Väter willen, sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich. ... Da also das Christen und Juden gemeinsame gleiche Erbe so reich ist, will die heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist. Obwohl die jüdische Obrigkeit mit ihren Anhängern auf den Tod Jesu gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied, noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als ob dies aus der Schrift zu folgern sei. Darum sollen alle dafür Sorge tragen, dass niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehren, was mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht. ... Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche ... mit Entschiedenheit alle Hassausbrüche und Verfolgungen, alle Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgend einer Zeit und von irgend jemand gegen die Juden gerichtet haben." (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zur jüdischen Religion, 1966)
(1) Papst Johannes XXIII. (1958-1963) bei der Begegnung mit Juden in der Großen Synagoge in Rom.
Dr. Siegfried Schröer
Israel - der Gottesstreiter
- eine Kampfgeschichte -
Der Name "Israel" ist seit dem 7. Oktober 2023 in aller Munde, und die Rede ist dabei vom Staat Israel, der nach dem Massaker an israelischen Staatsbürgern (und Gästen aus verschiedenen Ländern) durch die palästinensische Terror-Organisation "Hamas" einen Vergeltungskrieg gegen diese führt, mit dem Ziel, sie zu vernichten. Für die weltweite Öffentlichkeit ist damit allerdings auch die Gründung des Staates Israel 1948 und seine Geschichte mit den permanenten - auch kriegerischen - Auseinandersetzungen mit Palästina bzw. dortigen politischen Gruppierungen erneut im Fokus.
Darüber ist die ursprüngliche Bedeutung des Namens geradezu verblasst und in den Hintergrund getreten. Der Name geht zurück auf eine Erzählung im Buch Genesis (1. Buch Mose, Kap 31,VV 23 - 32), in der der Stammvater Jakob einer sich selbst als "Volk Gottes" bezeichnenden Ethnie von Gott den Namen "Israel" erhält, der dann später auf das ganze Volk übergeht. Diese Erzählung ist die Geschichte eines Kampfes, eines Ringkampfes - um seinen und mit seinem Gott und schließlich für seinen Gott, seine Gottes-Vorstellungen und Gottes-Erfahrungen, und zugleich ein Paradigma für die gesamte Geschichte des Volkes - bis heute! Sie lautet:
Nach der Erzählung von Jakobs Heimreise aus Haran nach Beerscheba und von den Vorbereitungen auf seine Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau (Gen 31 -32) heißt es in der Genesis:
"In derselben Nacht stand er (Jakob) auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als er nur noch allein zurückgeblieben war, r a n g mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm r a n g. Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er. Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern I s r a e l (Gottesstreiter); denn mit G o t t und Menschen hast du g e s t r i t t e n und hast gewonnen. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn. Jakob gab dem Ort den Namen Penuel (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen."Bemerkenswert sind die Fremdheit und zugleich die Vertrautheit im Verhältnis zwischen Gott und Jakob / Israel: Der "Mann" (Gott ?) weigert sich, seinen Namen preiszugeben, Jakob aber hat Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, was nicht einmal Mose "vergönnt" war, weil das den Tod des Menschen nach sich zieht (Ex 33,20). - Der Name "Israel" enthält die Gottesbezeichnung El, die aus einer anderen Tradition stammt und (vor allem im Plural Elohim) nicht im eigentlichen Sinn einen Namen, sondern einen "Gattungsbegriff" darstellt ("Gott" / "Götter" allgemein) und kann auch übersetzt werden als: "Du bist stark gewesen gegen Gott." Er begegnet Gott sozusagen "auf Augenhöhe". Die Offenbarung des eigentlichen "Gottes-Namens" JHWH erfolgt dann erst in der Erzählung von Mose und vor dem brennenden Dornbusch (Ex 3) und die weitere Geschichte des (jüdischen) Volkes "Israel" ist danach geprägt vom Kampf für JHWH, den einzigen Gott, gegen zahlreiche Völker und deren Gottheiten im gesamten voderasiatischen Raum von Mesopotamien bis Ägypten. Zu ihm bekennt sich Israel im sog. "kleinen heilsgeschichtlichen Glaubensbekenntnis" im Buch Deuteronomium (5. Buch Mose, Kap. 26, VV 5-9):
"Du aber sollst vor dem Herrn (JHWH / Adonai), deinem Gott (El/ohim), folgendes Glaubensbekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.* Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten (!) uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrieen zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenen Arm, unter großen Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen."
Israel erleidet also Gewalt, übt aber auch Gewalt im Namen "seines" Gottes (JHWH), der als oft als Kriegsgott erscheint und anderen Völkern "für sein" Volk Gewalt antut - von den Ägyptern bis zu den Kanaanitern - und das nicht nur, um sich zu verteidigen, sondern um zu erobern!
*(Bei den Aramäern handelt es sich um ein Volk, aus dem die Sippe Jakobs hervorgegangen und am oberen Euphrat zwischen zwei Nebenflüssen dieses Stromes beheimatet war, einem Gebiet, in dem auch Haran (Charan) lag, woher seine Mutter Rebecca stammte (Gen 24). Dorthin flieht Jakob auf Anraten Rebeccas vor seinem Bruder Esau, nachdem er diesen um das Erstgeburtsrecht gebracht hatte (Gen 27). Er kommt bei seinem Onkel Laban (Bruder Rebeccas) unter, heiratet zwei seiner Töchter und lebt dort zwanzig Jahre im Dienst Labans, bevor er nach Beersheba zurückkehrt und Esau sich mit ihm versöhnt.)
Damit beginnt die eigentliche Geschichte Israels als "12-Stämme-Volk" - das vollkommene Gottesvolk - mitten unter den Völkern und deren Gottheiten, die als "Götzen" bezeichnet und bekämpft werden - auch mit physischer Gewalt - wie bereits vor und bei dem Auszug aus Ägypten. (Ex 1-15).
Auch während der, erst recht nach der Wüstenwanderung (dem Zug ins gelobte Land) kommt es zu Kämpfen oder (teils kriegerischen) Auseinandersetzungen mit dort lebenden Völkern (Stämmen) wie den Amalekitern (Ex 17,8-16), mit den Edomitern (Nm 20, 14-21), den Kanaanitern (Nm 21,1-3 / besonders Nm 33,50-34!), den Amoritern (Nm 21,21-35), den Moabitern (Nm 22-25), den Midianitern (Nm 25, 8-18 / 31,1-54). Anders, als oft dargestellt, wird Kanaan mit Gewalt erobert und die Einwohner werden vertrieben oder umgebracht (Nm 33,52 / Jos 6, 1-21, - Jericho! / Jos 10 - 12) - alle Teile Kanaans!). Von David werden weitere Völker geschlagen und erobert: die Philister (2 Sam 5,17-25 / 8,1-14) zuletzt die Ammoniter (2 Sam 12,26-31) u.a., schließlich die Jebusiter, deren Region David zu seiner Königstadt macht (vgl. Jos 15,8 und Dtn 7,1).
In diesem Sinne äußerten sich am 25.9.24 in der FAZ die Politologin Saba-Nur Cheema* und ihr Mann Meron Mendel*, Professor für Soziale Arbeit:
"Pazifist im heutigen Israel zu sein; klingt wie ein Paradox. Im Judentum gibt s zwar eine lange pazifistische Tradition (s.u.), die aber liegt vor allem in der Zeit der Diaspora. Dem Alten Testament kann man Pazifismus nun wirklich nicht unterstellen. Schon Isaak ... segnete seinen Sohn Esau mit den Worten: "Vom Schwerte wirst du leben." Auch sonst geht es vielfach um Kriege, um die Eroberung des Landes Israel und eine Reihe blutiger Auseinandersetzungen in der Zeit der Könige (s.o.). Erst in der Diaspora fühlen sich viele Juden zum Pazifismus hingezogen."
(* Frau Cheema ist Muslima (!) und berät das Innenministerium zum Thema Muslimfeindlichkeit; Herr Mendel ist (säkularer) Jude (!) und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Franfurt.)
Die genannten Kriege und blutigen Kämpfe werden geführt - nach eigener Überzeugung - , um die Anerkennung und Anbetung des einen wahren Gottes JHWH durchzusetzen, den Monotheismus gegen den Polytheismus! Dafür steht Israel - bis heute! Aber dagegen steht die abrahamitische Tradition (s.u.)
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es sich bei den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob um drei nicht verwandte Stammesführer handeln und bei den Erzählungen über entsprechende unterschiedliche Traditionen handeln könnte, die später redaktionell zusammengefügt worden sind. Dadurch wird Jakob zum Enkel Abra(ha)ms. Zu beachten ist dabei die außerordentliche Bedeutung von Genealogien (Geschlechterfolgen) und Dynastien in der Genesis und gesamten Tora ( s. Gen 4; 5; 10; 11,10 ff, oder auch Gen 25): Es geht immer um die Sicherung der Nachkommenschaft und den Fortbestand der jeweiligen Sippe / des Stammesverbandes (rein menschlich), vor allem aber um den Fortbestand des von Gott für das Heil der ganzen Menschheit auserwählten Volkes (heilsgeschichtlich), eines Volkes, das seiner Berufung aber immer wieder untreu wird, weil es sein möchte wie die anderen Völker und einen König, einen Tempel, einen Hohenpriester haben möchte - und seinen eigenen Gott, von dem es aber auch mehrfach abfällt, sich anderen Göttern ("Götzen") zuwendet und zeitweilig sogar seine Tora vergisst, bis sie (die Tora-Rolle) unter König Josia im Tempel wiedergefunden wird (2 Kö 22).
JHWH aber ist kein Nationalgott, wie die anderen Völker einen haben, sondern der "adonai", der Herr über alle Mächte (Gottheiten), der Herr der Welt und der ganzen Menschheit / aller Völker. Ihn als solchen anzuerkennen und mit ihm seinen gesandten Sohn und Messias Jesus Christus, weigern sich bis heute die meisten Juden, was schließlich zur Spaltung bzw. Trennung zwischen Judentum und christlicher Kirche geführt hat.
Ergänzung
Es handelt sich also um einen Streit bzw. Kampf um Land für ein Volk, das sich für auserwählt hält. Wie kommt es eigentlich dazu, und welchen Sinn und Zweck hat die Auserwählung? Sie kann doch nicht vor anderen Völkern bzw. vor der Welt einfach behauptet werden und daraus das Recht der Eroberung abgeleitet werden. Dieser Exklusivanspruch ist auch eine Wurzel für den aufkommenden Antisemitismus schon in vorchristlicher Zeit. Das bezieht sich auf die Landnahme damals wie heute. Und damit komme ich zum eigentlich kritischen Punkt: das Gottesbild. Im historischen Israel konnte Gott (JHWH/Elohim) nur deshalb als Kriegsmann (Ex 3,8) und Kriegsheld (Jes 42,13) angesehen werden, weil das 12-Stämme-Volk "aus Jakobs/Israels Samen" schon in Ägypten groß wurde und deshalb Unerdrückung und Verfolgung erleiden musste, durch Gott befreit wurde (Ex 13-14), dann aber auch in ständige Stammeskämpfe in der Region zwischen Mesopotamien und Ägypten verwickelt war und sich dann durch Davids Eroberungen zu einer respektablen Mittelmacht entwickeln konnte, die aber schließlich zwischen und von den Großmächten im Osten und im Westen aufgerieben wurde - wie von Propheten angekündigt. Der als befreiend und wegweisend erfahrene Gott wird so zum Kriegsgott, der auch vor Gewaltanwendung nicht zurückscheut, Völker bedroht und vernichtet, (Jos 6-12 und 1 Chr 18-19).
Dies ist natürlich die "Außenperspektive", die dem israelitischen "Narrativ" widerspricht, ist aber auch eine Herausforderung für den Glauben darstellt, indem sich die Glaubenden immer wieder fragen und prüfen müssen, ob sie Gott nicht zu sehr für ihre jeweiligen Wunschvorstellungen und Machtansprüche vereinnahmen - und damit auch gegen das Bilderverbot verstoßen.
Abraham, der "Vater der Menge" (der Völker)
- eine Friedensgeschichte -
Von dieser Tradition unterscheidet sich offenkundig die Abrahamsgeschichte, die im Gegensatz zu der Exodus-Erzählung (ca. 1200 v. Chr,) historisch kaum fixiert werden kann. Vermutet wird die Zeit um 1800 v. Chr.
"Als Abram neunundneunzig Jahre als war, erschien ihm der Herr und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige. Geh deinen Weg vor mir, und sei rechtschaffen! Ich will einen Bund stiften zwischen mir und dir und dich sehr zahlreich machen. ... Das ist mein Bund mit dir: Du wirst Stammvater einer Menge von Völkern (!). Man wird dich nicht mehr Abram nennen. Abraham (Vater der Menge!) wirst du heißen. ... Ich mache dich sehr fruchtbar und lasse Völker aus dir entstehen; Könige (!) werden von dir abstammen. Ich schließe meinen Bund zwischen mir und dir samt deinen Nachkommen, Generation um Generation, einen ewigen Bund: dir und deinen Nachkommen werde ich Gott sein. Dir und deinen Nachkommen gebe ich ganz Kanaan, das Land, in dem du als Fremder weilst, für immer zu eigen, und ich will ihnen Gott sein." (Gen 17,1- 8).
* Die Nachkommen aber sollen zahlreich sein "wie der Staub auf der Erde", den aber keiner zählen kann. (Vgl auch: "wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand" Gen 22,17) Gemeint sein kann damit aber kein blutsmäßig-biologisches Volk, sondern vielmehr das Gottes-Volk aus allen Ländern und Nationen - aus Glaubenden wie Abraham, die Familie Gottes, wie sie im Neuen Bund, dem Neuen Testament verstanden wird (Vgl. Joh 1,12.13 / Mat 12,46-50).
* - Auf den letzten Satz und ähnliche (Gen 12,7 und Gen 13,15) berufen sich heute orthodoxe Juden (besonders aus der Siedlerbewegung). Vermutlich handelt es sich aber um eine spätere redaktionelle Einfügung aus der Perspektive der später erfolgten Eroberung Kanaans (Jos 10-12) - Erwähnt wird ausdrücklich, dass dort schon die Kanaaniter im Land waren - im Raum um Sichem, dem späteren Samaria - und diese nicht etwa vertrieben wurden. -
Dazu ein Text aus der FR im Juli 2024: Die Parole "From the river to the see" (von Palästina-Demonstranten mit dem Zusatz versehen "Palestine will be free") wurde und wird auch von israelischer Seite benutzt. Frühe Zionisten und der Gründer des Likud, Menachem Begin, haben ein "Erez Israel" mindestens vom Jordan bis zum Mittelmeer gefordert, die Siedlerbewegung fordert das seit langem ebenfalls. Die Ende 2022 gebildete Regierung Netanjahu stellt in ihrem Programm - in Anlehnung an das- jenige des Likud von 1973 - fest: "Das jüdische Volk hat ein exklusives und unerschütterliches Recht auf alle Gebiete von Erez Israel: Die Regierung wird fördern und entwickeln die Besiedlung in allen Teilen Erez Israels, in Galiläa, im Negev, auf dem Golan, in Judäa und Samaria. So äußert sich auch der frühere Aussenminister und jetzige Energieminister: "From the river to the see, there will be only one State. The State of Israel."
"Abram aber zog dann weiter bis zum Negeb (heute: die Wüste Negev) und dann - wie später sein Enkel Jakob/Israel - wegen einer Hungersnot nach Ägypten, um danach wieder in den Negeb zurückzuziehen, wo er sich schließlich friedlich (!) von seinem Neffen Lot trennt und das Land mit ihm teilt: "Wir sind doch Brüder ". (Gen 13,8)
Demnach ist Abraham nicht nur Stammvater eines Volkes, sondern vieler (aller?) Völker und "Vater des Glaubens an Gott" schlechthin. Jakob, der Gottesstreiter, hingegen wird Stammvater des "12-Stämme-Volkes" Israel, (Gen 35,22-26), dessen Geschichte geprägt ist von Gewalt - passiv und aktiv - s. S. 3)! Sie ist aber auch geprägt von der Denkweise eines kleinen Volkes, das in der davidisch-salomonischen Zeit zu (relativ) großer Macht gekommen ist, als die ansonsten dominanten Machtblöcke im Osten und im Westen eine Schwächeperiode erlitten, eines Volkes, das aber letztlich mit seiner und an seiner weltlichen Macht scheitert (zweimalige Zerstörung Jerusalems und des Tempels, Ende der davidischen Dynastie, Zerstreuung unter die Völker, Diaspora-Existenz und permanente Verfolgung - bis zur Shoa und der Bedrohung des Staates Israel durch arabische Nachbarstaaten und die iranisch gesteuerten Terror-Organisationen Hamas und Hisbollah). Ein Anspruch auf das Reich Davids (Erez Israel als Flächenstaat) lässt sich aber aus "Genesis" und "Exodus" nicht rechtfertigen. Berufen ist das Volk Gottes - wie Abraham - Zeugnis für den einen wahren Gott JHWH unter den Völkern abzulegen - als Fremdling! Vgl. Gen 15,13 / 17,8 und Gen 21,34)
Bemerkenswert ist, dass Abraham keine Kriege führt, sondern auf Frieden bedacht ist mit den Völkern, unter oder bei denen er lebt, was besonders deutlich wird bei der friedlichen Verabschiedung durch den Pharao (Gen 12,20), bei der Begegnung mit Melchisedech, dem König von Salem ("Frieden" / Jerusalem) - s.u. - und der Versöhnung mit Abimelech (Gen 20 und 21); der friedlichen Einigung mit den Hetitern: "Fremder und Halbbürger bin ich unter euch. Gebt mir ein Grab bei euch." (Gen 23,4) Eine Ausnahme ist allenfalls die Befreiung seines Neffen Lot aus den Händen der Sodomiter (Gen 14,12-16), mit denen er sich aber schließlich verständigt (Gen 14,21-24). Eingefügt ist die geradezu paradigmatische Begegnung mit Melchisedech, die im Psalm 110 (V. 4) zitiert wird und als Vorwegnahme eines neuen "Opfer"verständnisses im Neuen Bund (vgl. Hebr 5-7) gelesen werden kann:
"Melchisedech, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des Höchsten Gottes. Er segnete Abram und sagte: 'Gesegnet sei Abram vom Höchsten Gott, / dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der Höchste Gott, der deine Feinde (die Sodomiter) an dich ausgeliefert hat.' Daraufhin gab ihm Abram den Zehnten von allem." /Gen 14,18-20)
Melchisedech ist also ein "Friedenskönig"; seine Residenz ist Salem bzw. Jerusalem, die Stadt des Friedens (shalom). Erinnert sei daran, dass die Engel auf Bethlehems Fluren "Frieden den Menschen seiner Gnade" verkünden und Jesus selbst seinen Jüngern den Frieden zuspricht (Joh 20,19). Sodann ist bemerkenswert, dass die Verständigung bzw. versöhnliche Begegnung durch "Brot und Wein" und "Segen" besiegelt wird - wie in der Eucharistie bzw. beim Abendmahl, also nicht durch (materielles) Blut. Der Hohepriester des Neuen Bundes ist "ein Priester nach der Ordnung des Melchisedech (Ps 110 und Hebr 5-7).
Es geht also in der Abrahams-Geschichte um Nachkommen im Sinne des unbedingten Glaubens an den einen Gott, nicht um "Blut-und-Boden"-Verwandtschaft bzw. Nachkommenschaft, diese allenfalls vorübergehend. Abraham ist demnach der wahre "Ur-Ahn" Jesu. Der sogenannte Davidsohn durchbricht mit seiner jungfräulichen Zeugung und Geburt die (biologische) israelitisch-davidische Genealogie. Denn er ist "nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren". (Vgl. Joh 1,13) Das Wort "Fleisch" im nachfolgenden für das Evangelium zentralen Satz bedeutet ganz allgemein "Mensch", als Geschöpf, nicht seinen triebhaften Willen (wie in V 13): "Und das Wort (der Logos) ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit." (Joh 1,14) Bemerkt sei noch, dass Mt den Stammbaum Jesu nur bis Abraham zurückführt, Lk aber bis Adam: "Der stammte von Gott." (Lk 3,38 - vgl. Lk 1,35) - wie Jesus ohne irdischen Vater (BJ). Mit Jesus (und Maria, der Gottesmutter) beginnt demnach ein neues Menschengeschlecht!
Vgl. "Selig die Sanftmütigen. Sie werden das Land besitzen." (Mt 5.5 / Bergpr.)
Eine weitere, besonders zentrale Erzählung aus der Abrahams-Geschichte ist die sog. "Opferung (hebr. Bindung) Isaaks" (Gen 22), die m.E. weithin einseitig gedeutet wird, und als Bestätigung für den bisherigen Befund gelesen werden kann:
"Nach diesen Ereignissen stellte Gott (Elohim!) Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija, und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar.
Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel, holte seine beiden Jungknechte und seinen Sohn Isaak, spaltete Holz zum Opfer und machte sich auf zu dem Ort, den ihm Gott genannt hatte. Als Abraham am dritten Tag aufblickte, sah er den Ort von weitem. Da sagte Abraham zu seinen Jungknechten: Bleibt mit dem Esel hier! Ich will mit dem Knaben hingehen und anbeten; dann kommen wir zu euch zurück.
Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen sie beide miteinander. Nach einer Weile sagte Isaak zu seinem Vater Abraham: Vater! Er antwortete: Ja, mein Sohn! Dann sagte Isaak: Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? Abraham entgegnete: Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn. Und beide gingen miteinander weiter.
Als sie an den Ort kamen, den Gott ihm genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Schon streckte Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief ihm der Engel des Herrn (JHWH!) vom Himmel her zu: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Jener sprach: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus, und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott (Elohim) fürchtest; du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten. Als Abraham aufschaute, sah er: Ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar. Abraham nannte jenen Ort JHWH-Jire (Der Herr sieht), wie man noch heute sagt: Auf dem Berge lässt sich der Herr (JHWH) sehen.
Der Engel des Herrn (JHWH) rief Abraham zum zweitenmal vom Himmel zu und sprach: Ich habe bei mir geschworen - Spruch des Herrn (JHWH): Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand. Deine Nachkommen sollen das Tor ihrer Feinde einnehmen. (???) Segnen sollen sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil du meine Stimme gehört hast .
Darauf kehrte Abraham zu seinen Jungknechten zurück. Sie machten sich auf und gingen miteinander nach Beerscheba. Abraham blieb in Beerscheba wohnen."
Auffallend an dieser Erzählung ist zunächst der Gebrauch des / der Gottes-Namen "Elohim" und JHWH. Dahinter verbirgt sich das dramatische Ringen um den "wahren, den einzigen Gott. Es ist schon problematisch, von den "Namen" zu sprechen, denn "Elohim" (Mehrzahl! Einzahl "El") ist ein Gattungs-B e g r i f f, der das allgemein "Göttliche" oder die "Gottheit", zunächst sogar nur allgemein das "Herrscherliche" oder die überragende "Herrschaft". Darunter fallen dann alle möglichen "Gottheiten" oder "Götter" /"Göttinnen" (wie Baal, Marduk, Astarte, Aschera, Amun-Re, Isis-Hathor etc.) Wir begegnen Abraham also zunächst als "Gottgläubigen", der bereit ist, den Göttern oder einem Gott zu opfern, sogar sein Allerliebstes, seinen erstgeborenen Sohn (s. Bedeutung der Genealogie und der dynastischen männlichen Erbfolge), um ihn oder sie gnädig zu stimmen. (Kinderopfer waren aber im vorderasiatischen Raum gang und gebe - und nicht nur dort!) JHWH aber - den wahren Gott - kennt er noch nicht. Deshalb soll er nicht nur seine Familie und seine Heimat, sondern auch die (heidnische) Götterwelt hinter sich lassen und sein Kind nicht opfern! Gleichwohl wird seine Bereitschaft, sich "Gott" zu unterwerfen und als Herrn über das Leben - auch der Kinder - anzuerkennen, gewürdigt und anerkannt. Wir haben es also mit einer Lerngeschichte zu tun: Abraham lernt JHWH, den menschenfreundlichen barmherzigen Herrn, kennen und wird durch seinen Glauben an ihn zum Segen für die ganze Menschheit (so ist das Bild von den - unzählbaren - Sternen und Sandkörnern zu verstehen).
Diese Auffassung vertritt schon der berühmte jüdische Theologe Maimonides (Moshe ben Maimon) im 13. Jahrhundert in Andalusien, neuerdings auch der jüdische, in den USA lehrende, Philosoph Omri Boehm. Merkwürdigerweise hat sich diese Lesart weder im Judentum noch im Christentum durchsetzen können! Sind wir Christen und unsere "älteren -jüdischen - Brüder" noch immer (kryptisch/unterschwellig) von "heidnischen Gottesvorstellungen" befangen?
Anm.: Wir haben es auch hier mit einer "Eigenart" JHWHs zu tun, wie wir sie aus der Erzählung von den "Weisen aus dem Morgenland" in Mt 2 kennen: Er benutzt den (rudimentär) vorhanden Glauben der "Heiden" (d.h. anderer Völker und Kulturen), um sich zu offenbaren - man könnte sagen: er holt seine Adressaten dort ab, wo sie sind, und führt sie dann weiter in ihrer Gotteserkenntnis, dieweil sein Volk bzw. dessen Älteste und Herrscher ihn nicht erkennen (Vgl. Mt 2,3 ff und Mt 8,10). - Das schlägt sich auch noch darin nieder, dass in der Tora der Begriff "Elohim" später quasi zu einem "Namen" in der Verbindung "JHWH-Elohim" - Herr-Gott wird, ähnlich wie in der Kirche der Hoheits-Titel "Messias / Christus" in der Verbindung mit "Jesus" zu einem Namen wird.
Fazit: Es gibt in Israel also zwei Traditionsstränge, die zusammengefügt worden sind, vermutlich nach der Katastrophe des Exils, nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels sowie der davidischen Dynastie. Das bedeutet eine Relativierung der Kriegsgeschichte, eine Ablehnung von Angriffskriegen, allenfalls eine Rechtfertigung von Verteidigungskriegen. Besser als jeder Krieg ist danach die rechtzeitige diplomatische Verständigung, so wie Abraham und Lot sich verständigen und Land untereinander aufteilen - nach der Devise "Wir sind doch Brüder." (Gen 13,8)
Auch Isaak und Ismael sind Brüder - auch Juden, Christen und Muslime - weil sie an e i n e n Gott glauben, wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen.
"Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. / Als Mann und Frau erschuf er sie." (Gen 1,27)
0. Einführung
Die Sexualität halte ich für eins der grüßten Wunder in Gottes Schöpfung, nicht zuletzt, weil durch sie der Mensch in besonderer Weise teilnimmt am Wirken des Schöpfers. Die Zweigeschlechtlichkeit (und damit die Unterschiedlichkeit) ist die Basis für die Entstehung neuen personalen menschlichen Lebens, kann aber auch bei Kinderlosigkeit eine geistige Fruchtbarkeit begründen. Die leibseelische Einswerdung von Mann und Frau kann dabei zur tiefen Erfüllung menschlicher Sehnsucht nach Liebe werden. Kann! Aber Sexualität ist auch höchst gefährdet, weil sie mit einem mächtigen Trieb einhergeht, den zu kontrollieren bzw. zu kultivieren den meisten Menschen schwer fällt, weil er einen "umwerfenden" Lustgewinn mit sich bringt. Deshalb wird er allzu oft von der personalen Begegnung abgespalten und verselbständigt sich, wie schon die sprachliche Praxis zeigt, wenn Sexualität auf "Sex" reduziert wird. Die Folgen davon sind offenkundig, werden aber von Menschen vielfach geleugnet oder banalisiert.
Wie aber wird Sexualität in der Hl. Schrift gesehen?
1. Das paradiesische Ideal und die durch den Sündenfall geprägte Wirklich- keit - in Poesie, Urgeschichte und Zeitgeschichte
1.1 Das Hohelied Salomos / Fünftes (letztes) Lied / Hld 6,4 - 8,7
Der Geliebte:
Schön wie Tirza* bist du, meine Freundin, / lieblich wie Jerusalem, / prächtig wie Himmelsbilder. Wende deine Augen von mir, / denn sie verwirren mich. Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen, / die vom Gilead herabziehen. Deine Zähne sind wie eine Herde von Mutterschafen, / die aus der Schwemme steigen. Jeder Zahn hat sein Gegenstück, / keinem fehlt es.
Dem Riss eines Granatapfels gleicht deine Schläfe / hinter deinem Schleier.
Sechzig Königinnen (hat Salomo) / achtzig Nebenfrauen / und Mädchen ohne Zahl. *
Doch einzig ist meine Taube, die makellose, / die Einzige ihrer Mutter, / die Erwählte ihrer Gebärerin. Erblicken sie die Mädchen, / sie preisen sie; / Königinnen und Nebenfrauen rühmen sie.
Wer ist, die da erscheint wie das Morgenrot, / wie der Mond so schön, strahlend rein wie die Sonne, / prächtig wie Himmelsbilder?
In den Nussgarten stieg ich hinab, / um nach den Sprossen der Palme zu sehen, um zu sehen, ob der Weinstock treibt, / die Granatbäume blühen.
Da entführte mich meine Seele, / ich weiß nicht wie, / zu den Wagen meines edlen Volkes.
Der Chor:
Wende dich, wende dich, Schulamit!* / Wende dich, wende dich, / damit wir dich betrachten.
Der Geliebte:
Was wollt ihr an Schulamit sehen? / Den Lager-Tanz!*
Wie schön sind deine Schritte in den Sandalen, / du Edelgeborene. Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, / gefertigt von Künstlerhand. Dein Schoß ist wie ein rundes Becken, / Würzwein mangle ihm nicht. Dein Leib ist wie ein Weizenhügel, / mit Lilien umstellt. Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, / wie die Zwillinge einer Gazelle. Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein. / Deine Augen sind wie die Teiche zu Heschbon / beim Tor von Bat-Rabbim. Deine Nase ist wie der Libanon-turm, / der gegen Damaskus schaut.* Dein Haupt gleicht oben dem Karmel; / wie Purpur sind deine Haare; ein König liegt in ihren Ringeln gefangen. Wie schön bist du und wie reizend, / du Liebe voller Wonnen! Wie eine Palme ist dein Wuchs, / deine Brüste sind wie Tauben. Ich sage: Ersteigen will ich die Palme; / ich greife nach den Rispen. Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste, / Apfelduft sei der Duft deines Atems, dein Mund köstlicher Wein, / der glatt in dich eingeht, / der Lippen und Zähne mir netzt.
Die Geliebte
Ich gehöre meinem Geliebten, / und ihn verlangt nach mir.* Komm mein Geliebter, wandern wir auf das Land, / schlafen wir in Dörfern. Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen / und sehen, ob der Weinstock schon treibt, ob die Rebenblüte sich öffnet, / ob die Granatbäume blühen. / Dort schenke ich dir meine Liebe. Die Liebesäpfel duften; / an unserer Tür warten alle köstlichen Früchte, frische und solche vom Vorjahr, / für dich hab' ich sie aufgehoben, Geliebter. Ach, wärst du doch mein Bruder*, / genährt an der Brust meiner Mutter. Träfe ich dich dann draußen, / ich würde dich küssen, / niemand dürfte mich deshalb verachten. Führen wollte ich dich, / in das Haus meiner Mutter dich bringen, / die mich erzogen hat. Würzwein gäbe ich dir zu trinken, / Granatapfelmost. Seine Linke liegt unter meinem Kopf, / seine Rechte umfängt mich.
Der Geliebte
Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter: / Was stört ihr die Liebe auf, / warum weckt ihr sie, ehe es ihr selbst gefällt? Wer ist sie, / die aus der Steppe heraufsteigt, / auf ihren Geliebten gestützt? Unter dem Apfelbaum hab' ich dich geweckt, / dort, wo deine Mutter dich empfing, / wo deine Gebärerin in Wehen lag.
Die Geliebte
Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, / wie ein Siegel auf deinen Arm! Stark wie der Tod ist die Liebe, / die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, / gewaltige Flammen. Auch mächtige Wasser / können die Liebe nicht löschen; / auch Ströme schwemmen sie nicht weg. Böte einer für die Liebe / den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn.
*** Erläuterungen: Das Hohelied entspricht in mancher Hinsicht Liebes- und Hochzeitsliedern der Nachbarvölker (Ägypten, Syrien, Libanon, Kanaan u.a.). stellt aber eine eigenständige aus fünf Liedern bestehende erotische Dichtung dar, die dem König Salomo zugeschrieben wird (wie die Bücher "Die Sprüche Salomos" und "Der Prediger Salomo"), von diesem aber allenfalls partiell und zu unterschiedlichen Zeiten verfasst worden ist. - Der Lagertanz dürfte ein Bauchtanz sein, wie er (bis heute) bei orientalischen Völkern verbreitet ist. Tirza ist der Name einer zeitweiligen Hauptstadt des israelitischen Nordreichs; sie wird mit Jerusalem verglichen und bedeutet "wohlgefällig".
Dass hier - eigentlich völlig unpassend - auf die vielen Frauen Salomos - nach 1 Kön 1 tausend - könnte als literarisch-poetische Spitze gegen Salomo verstan-den werden ("doch meine Taube") oder seine Autorenschaft in Frage stellen. Zudem ist es ja in der Antike nicht ungewöhnlich, dass Verfasser sich des Na-mens einer Autorität bedienen, der sie sich verpflichtet wissen oder mit der sie die Bedeutung des eigenen Werkes untermauern wollen. Der Name Schulamit ist ein Kunstname, der nur hier erscheint.
Dass hier plötzlich vom Bruder der Geliebten die Rede ist, könnte dem Einfluss Ägyptens u.a. geschuldet sein, wo Geschwisterehen (besonders im Königshaus) nicht ungewöhnlich waren.
Das Hohelied ist geprägt von einer partnerschaftlichen Begegnung von Frau und Mann, von treuer Liebe "besiegelt". Es ist ein Lobgesang auf die gottgewollte leidenschaftliche erotische Liebe, die aber ihre Überbietung findet in der Agape, der bedingungslosen Liebe, wie sie nur Gott eigen ist, an der aber der Mensch durch Gnade teilhaben kann. (s. u. 1 Kor 13)Soweit das Ideal. Wie aber sieht es mit der Wirklichkeit nach dem Sündenfall aus?
1.2 Gottessöhne und Menschentöchter / Gen 6,1-8 Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen* sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel* Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen.* In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen hatten und ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer.
Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit der Menschen zunahm, und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den Herrn, auf der Erde Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel das Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben. Nur Noach fand Gnade in den Augen des Herrn.
* Die Frauen werden also als "Objekte" der männlichen Begierlichkeit angesehen und nicht als Subjekte und Partnerinnen auf Augenhöhe.
*Vgl. den Tod des Mose (Dtn 34,7)
1.3 Die Frauen Salomos / 1 Kön 3, 1 und 11,1-8.11
1.3.1 Salomo verschwägerte sich mit dem Pharao, dem König von Ägypten. Er nahm eine Tochter des Pharao zur Frau * und brachte sie in die David-Stadt, bis er sein Haus, des Haus des Herrn und die Mauern rings um Jerusalem vollendet hatte.
1.3.2 König Salomo liebte neben der Tochter des Pharao noch viele andere ausländische Frauen: Moabiterinnen, Ammoniterinnen*, Edomiterinnen, Sidonierinnen, Hetiterinnen. Es waren Frauen aus den Völkern, von denen der Herr den Israeliten gesagt hatte: Ihr dürft nicht zu ihnen gehen, und sie dürfen nicht zu euch kommen; denn sie würden euer Herz ihren Göttern zuwenden. Er hatte siebenhundert fürstliche Frauen und dreihundert Nebenfrauen. Sie machten sein Herz abtrünnig. Als Salomo älter wurde*, verführten ihn seine Frauen zur Verehrung anderer Götter, so dass er dem Herrn, seinem Gott, nicht mehr ungeteilt ergeben war wie sein Vater David. Er verehrte Astarte, die Göttin der Sidonier, und Milkom (Moloch), den Götzen der Ammoniter*. Er tat, was dem Herrn missfiel, und war ihm nicht so vollkommen ergeben wie sein Vater David. Damals baute Salomo auf dem Berg östlich von Jerusalem eine Kulthöhe für Kemosch, den Götzen der Moabiter, und für Milkom (Moloch), den Götzen der Ammo-niter. Dasselbe tat er für alle seine ausländischen Frauen, die ihren Göttern Rauch- und Schlachtopfer darbrachten. ... Daher sprach der Herr zu ihm: Weil es so mit dir steht, weil du meinen Bund gebrochen und die Gebote nicht befolgt hast, die ich dir gegeben habe, werde ich dir das Königtum entreißen und es deinem Knecht geben.*
* Beide Völker zählten zu den Erzfeinden Israels. Trotzdem nahm Salomon auch Frauen aus ihnen in seinen "Harem" auf und ließ für deren Götzen (s.o) Kultstätten bauen, so auch dem Moloch, dem Kinderopfer dargebracht wurden, die "durchs Feuer gingen" ). Andererseits gehört eine Moabiterin zu seinen Vorfahren: Rut! (Siehe Stammbaum nach Matthäus Mt 1,3)!
(S.u.: Lot und seine Töchter - S. 10)
*Das ist der Anfang vom Ende des Königtums in Israel und der davidischen Herrscher-Dynastie (in der Exilszeit).- Ehebruch und Unzucht werden oft als Bilder für Götzendienst und die Untreue Israels gegenüber JHWH verwendet. (Vgl. Hos 1,2-8) - Der Hinweis auf sein Alter soll den berühmten "weisen" König wohl entlasten .("Nicht mehr ganz bei Sinnen?")
1.4 Das andere Hohelied (der Liebe) / 1. Kor 12,31b - 13,13
Ich zeige euch jetzt noch einen anderen Weg, einen, der alles übersteigt: Wenn ich in den Sprachen der Menschen und der Engel redete, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts.
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, / und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, / hätte aber die Liebe nicht, / nützte es mir nichts.
Die Liebe ist langmütig, / die Liebe ist gütig. / Sie ereifert sich nicht, / sie prahlt nicht, / sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig, / sucht nicht ihren Vorteil, / lässt sich nicht zum Zorn reizen, / trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht, / sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles, / glaubt alles, / hofft alles, hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf. / Prophetisches Reden hat ein Ende, / Zungenrede verstummt, / Erkenntnis vergeht.
Denn Stückwerk ist unser Erkennen, / Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, / vergeht alles Stückwerk.
Als ich ein Kind war, / redete ich wie ein Kind, / dachte wie ein Kind, / und urteilte wie ein Kind. / Als ich ein Mann wurde, / legte ich ab, was Kind an mir war.
Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. / Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann aber werde ich durch und durch erkennen / so wie durch und durch erkannt worden bin.
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, / doch am größten unter ihnen ist die Liebe (Agape).
2 Die Weisungen Jesu unter Bezugnahme auf Gen 1 und 2 / Mt 19,3-12
2.1 Die Ehescheidungsfrage
Da kamen Pharisäer zu ihm, die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete : Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat* (Gen 1) und er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein?* (Gen 2) Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen. Da sagten sie zu ihm, wozu hat dann Mose vorgeschrieben, dass man (der Frau) eine Scheidungsurkunde geben muss, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht (gemeint ist eine unrechtmäßige inzestuöse Verbindung) vorliegt, und eine andere heiratet, begeht Ehebruch (vgl. Ex 20,14.17 und Mt 5,27 und 5.28: Du sollst nicht die Ehe brechen. / Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen. (vgl. Spr 1,1-13) ... Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern anschaut, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen).
2.2 Die freiwillige Ehelosigkeit
Da sagten seine Jünger zu ihm: Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten. Jesus sagte zu ihnen: Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht, und manche haben sich selbst dazu gemacht - um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es.
Das heißt also sowohl für die Unauflöslichkeit als auch die freiwillige Ehelosig-keit: es ist Gnade. Darum gilt die Ehe in der Katholischen und in der Orthodo-xen Kirche als Sakrament (als Zeichen der Gnade und der Treue Gottes).
Dazu Zwei Stimmen aus der Literatur:
1. Aus dem Film "Dr. Schiwago" nach dem Roman von Boris Pasternak: Ein orthodoxer Pope im Beichtstuhl zur jugendlichen Lara, nachdem sie sich von einem Hausfreund ihrer Mutter hat verführen lassen: "Das Fleisch ist nicht schwach. Nur das Sakrament kann es beherrschen."
2.Aus dem Roman "Das Erwachen der Senorita Prim" von Sanmartin Fenorella (eine junge Intellektuelle auf ihrem Weg zum Glauben): Ein alter Benediktiner-Mönch in einem Gespräch mit der Protagonistin: "Das Geheimnis liegt darin, dass eine Ehe nicht von zweien, sondern von dreien geschlossen wird." (S.384) Vgl. die alte Volksweisheit: "Ehen werden im Himmel geschlossen", also ohne Gottes Gnade hat die Ehe keinen Bestand.
3 Weisungen und Ratschläge des Apostels Paulus im 1. Korintherbrief
Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glider Christi sind? Darf ich nun die Glie-der Christi nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen? Auf keinen Fall! Oder wisst ihr nicht : Wer sich an eine Dirne bindet, ist e i n Leib mit ihr? Denn es heißt: Die zwei werden e i n Fleisch sein (s.o. Gen 2). Wer sich da-gegen an den Herrn bindet, ist e i n Geist mit ihm. Hütet euch vor der Un zucht! (1 Kor 6,15-18)
Wegen der Gefahr der Unzucht soll jeder seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben. ... Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein. Dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht in Versuchung führt, wenn ihr euch nicht enthalten könnt. Das sage ich euch als Zugeständnis, nicht als Gebot. Ich wünschte, alle Menschen wären (unverheiratet) wie ich. Doch jeder hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so. ... Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren. .... Im übrigen soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen hat, wie der Ruf Gottes ihn getroffen hat. Das ist meine Weisung für die Gemeinden. (1 Kor 7,2 / 7,5-7 / 7,9 / 7,17)
Ich wünschte aber, ihr wäret ohne Sorgen. Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. So ist er geteilt. ( 1 Kor 7,32-34)
(Dasselbe gilt für die Frau: sie will ihrem Mann gefallen.)
4 Die Sexualität nach dem Willen des Schöpfers
4.1 Die Schöpfung des Menschen nach Gen 1,27-28 a
Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. / Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch. M.a.W. Die Sexualität ist also auf Fruchtbarkeit und Nachkommenschaft ausge-richtet und nicht vorrangig auf "Lustgewinn". Zugleich wird aber die Gleich-stellung von Mann und Frau vor Gott bzw. als sein Ebenbild und damit ihre Gleichwertigkeit betont. Dass Lust und Leidenschaft und das sexuelle Begehren zur Sexualität gehören, ist unbestreitbar und wird durch das Hohelied gewür-digt. Schon immer aber gab es bei Menschen das Bestreben, sie von der Fort-pflanzung "abzukoppeln" (Empfängnisverhütung) und (nur) "den Gelüsten des leibes" zu frönen (Vgl. Röm 6,12). Durch die Erfindung der biochemischen Antikonzeptiva ("Pille") ist dies so problemlos (vermeintlich?) möglich wie noch nie und hat aber auch mit zur Enthemmung der Sexualität und deren Reduzie-rung auf "Sex" beigetragen (die Sprache verrät es: halbierte Sexualität).
4.2 Die Schöpfung des Menschen nach Gen 2,7.8.15-25
Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. ... Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. ... Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte. ... Dann sprach Gott, der Herr: es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. ... Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so dass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: das endlich ist Bein von meinem Bein / und Fleisch von meinem Fleisch. / Frau (hebr. ischa / Männin) soll sie heißen, denn vom Mann (hebr. isch / Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.
M.a.W. werden in diesem Text besonders das partnerschaftliche Verhältnis zwi- schen Mann und Frau und ihre "Einswerdung" herausgestellt, aber auch eine gewisse Abhängigkeit des Mannes von der Frau ("Hilfe", "Bindung").
5 Zur Sexualität nach dem Sündenfall / Gen 3,16.17.20
Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe? Adam antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und ich habe gegessen. Gott, der Herr sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt, und so habe ich gegessen. (Es folgt die Verfluchung bzw. die Depotenzierung der Schlange, die den ägyptischen Schlangengott Amun repräsentiert - eine Spitze gegen die ägyptische Frau Salomos und ihre Götterwelt.) Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen (Vgl. Gen 6,1).
Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. / Unter Mühsal wirst du von ihm essen, / alle Tage deines Lebens. ... Adam nannte seine Frau Eva (hebr. chawa, Leben), denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen.
Kommentar: Nicht zu übersehen ist, dass die erste Sünde (die Übertretung des "Baum-Gebotes" und damit die Anmaßung des Menschen, selbst zu wissen, was (für ihn) gut und böse/schlecht ist, die zweite nach sich zieht, nämlich die der Schuldverschiebung bzw. Schuldzuweisung an andere ("i c h war es nicht") - eine allgegenwärtige Belastung des Verhältnisses zu Gott und untereinander.
Schluss:
Stark wie der Tod ist die Liebe, / die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.
Ihre Gluten sind Feuergluten, / gewaltige Flammen .
Auch mächtige Wasser / können die Liebe nicht löschen; / auch Ströme schwemmen sie nicht weg.
Böte einer für die Liebe / den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn. ( Hld 8,6b.7)
Die Liebe ist langmütig, / die Liebe ist gütig. / Sie ereifert sich nicht, / sie prahlt nicht, / sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig, / sucht nicht ihren Vorteil, / lässt sich nicht zum Zorn reizen, / trägt das Böse nicht nach.
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, / doch am größten unter ihnen ist die Liebe . (1 Kor 12,31 b - 13,13).
Das ist die Überbietung der leiblichen / fleischlichen Liebe durch die göttliche Liebe ("Agape"), an der wir durch Gnade teilhaben, indem wir glaubend auf Gottes Liebe antworten.
6 Weitere Texte zur Sexualität in der Genesis
6.1 Lot in Sodom (und Gomorra) / Gen 19,1.4-8)
Die beiden Engel (Männer) kamen am Abend (zu Lot) nach Sodom. ... Sie waren noch nicht schlafen gegangen, da umstellten Einwohner der Stadt das Haus. Die Männer von Sodom, jung und alt, alles Volk von weit und breit. Sie riefen nach Lot und fragten ihn: Wo sind die Männer, die heute Abend zu dir gekommen sind? Heraus mit ihnen, wir wollen mit ihnen verkehren. Da ging Lot zu ihnen hinaus vor die Tür, schloss sie hinter sich und sagte: Aber meine Brüder, begeht doch nicht ein solches Verbrechen! Seht, ich habe zwei Töchter,* die noch keinen Mann erkannt haben. Ich will sie euch herausbringen. Dann tut mit ihnen, was euch gefällt. Nur jenen Männern tut nichts an; denn deshalb sind sie ja unter den Schutz meines Daches getreten. -
* M.a.W.: Die Gastfreundschaft gilt mehr als die Ehre und die Unberührtheit der Töchter! Homosexualität aber wird als Verbrechen gebrandmarkt.
Vgl. Röm 1,26.27: (Gottes Zorn gegen die Heiden und ihren Götzendienst) Gott lieferte sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Be-gierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den gebührenden Lohn für ihre Verirrung.
6.2 Lot und seine Töchter / seine Söhne Moab und Ammon / Gen 19,30-38
(Vor der Vernichtung von Sodom und Gomorra hatte Gott Lot und seine Familie durch Engel in Sicherheit gebracht und ihm geboten, sich nicht umzudrehen. Als Lots Frau es trotzdem tat, wurde sie zur Salzsäule.)
Lot ließ sich mit seinen beiden Töchtern im Gebirge nieder und wohnte mit ihnen in einer Höhle. Eines Tages sagte die Ältere zur Jüngeren: Unser Vater wird alt, und einen Mann, der mit uns verkehrt, gibt es nicht. Komm, geben wir unserem Vater Wein zu trinken und legen wir uns zu ihm, damit wir von unserem Vater Kinder bekommen. Sie gaben also ihrem Vater Wein zu trinken; dann kam die Ältere und legte sich zu ihrem Vater. Er merkte nicht, wie sie sich zu ihm legte und wie sie aufstand. (Am anderen Abend tat die Jüngere dasselbe.) Beide Töchter Lots wurden von ihrem Vater schwanger. Die Ältere gebar einen Sohn und nannte ihn Moab. Er gilt als Stammvater der Moabiter* bis heute. Auch die Jüngere gebar einen Sohn und nannte ihn Ammon. Er gilt als der Stammvater der Ammoniter* bis heute.
6.3 Juda, Onan und Tamar
Juda nahm für seinen Erstgeborenen Er eine Frau namens Tamar. Aber Er, der Erstgeborene Judas, missfiel dem Herrn, und so ließ ihn der Herr sterben. Da sagte Juda zu Onan: Geh mit der Frau deines Bruders die Schwagerehe ein und verschaff deinem Bruder Nachkommen! Onan wusste also, dass die Nachkommen nicht ihm gehören würden. Sooft er zur Frau seines Bruders ging, ließ er den Samen zur Erde fallen ("coitus inter-ruptus") und verderben, um seinem Bruder Nachkommen vorzuenthalten. Was er tat, missfiel dem Herrn, und so ließ er auch ihn sterben. ( Hier folgt die Geschichte von Tamars Rache: Juda war Witwer geworden und Tamar setzte sich verkleidet als Dirne an den Weg, den er gehen würde. Juda ging zu ihr, schlief mit ihr und Tamar wurde schwanger; ihr und Judas Sohn Perez setzt die (davidische) Ahnenreihe fort. (Siehe Stammbaum nach Matthäus, Mt 1,3)
Nota bene: "Sodomie" und Onanie" sind irrtümliche Bezeichnungen, wie sie häufig noch verwendet werden: Sodomie lt. Duden: Geschlechtsverkehr mit Tieren - statt Bestialität Onanie lt. Duden: Selbstbefriedigung - statt Masturbation
Vorrang vor aller Geschlechtsmoral hat also in beiden Erzählungen die Siche-rung der Nachkommenschaft und die Erhaltung des Stammes bzw. der Dynastie dem Blut nach. Dieses Denken findet ein Ende im Evangelium. Die natürliche Familie wird überhöht durch die "Familie Gottes":
"Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden." (Lk 1,35)
"Er kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes geboren sind." (Joh 1,11-13) Ergänzen könn-te man - wie manche Handschriften und einige Kirchenväter, auch die Jerusa-lemer Bibel nahelegen - "wie er selbst". Das bestätigt auch der Stammbaum nach Matthäus:
"Jakob war der Vater von Josef, dem Mann Marias (dem Recht nach, nicht bio-logisch - Vgl Mt 1,20); von ihr wurde Jesus geboren, der der Messias genannt wird."(Mt 1, 16) - Mit Josef endet also der davidische Stammbaum. Die davidi-sche Dynastie war schon in der Exilszeit untergegangen.
Vgl. auch: Lk 2,49 / Mt 12,46-50
Dr. Siegfried Schröer