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Dr. Siegfried Schröer
Dagobertshausen und das Kloster Altenberg
1 | Die Ersterwähnung in einer Urkunde der hessischen Landgräfin Sophie von Brabant vom 15. Oktober 1258 und die Schenkung eines Hofes in Dagobertshausen an das Prämonstratenserinnen-Kloster Altenberg bei Wetzlar durch den Marburger Hermann Zöllner |
2 | Die mittelalterliche Schenkungs- und Memorialpraxis |
3 | Der Prämonstratenser-Orden |
4 | Das Prämonstratenserinnen-Kloster Altenberg – Gründung und Zielsetzung |
5 | Die besondere Beziehung des Klosters zu Marburg und seiner Umgebung durch die die hl. Elisabeth und ihre Tochter Gertrud, Meisterin des Klosters im 13. Jahrhundert |
6 | Dagobertshausen in den Klosterurkunden bis zum Verkauf 1509 |
7 | Abriss der Geschichte des Klosters bis heute |
8 | Der Name „Dagobertshausen“ |
1 Die Ersterwähnung in einer Urkunde der hessischen Landgräfin Sophie von Brabant und die Schenkung eines Hofes in Dagobertshausen an das Prämonstratenserinnen Kloster Altenberg bei Wetzlar durch den Marburger Bürger Hermann Zöllner.
Der Ort Dagobertshausen bei Marburg wird zum ersten Mal in einer Urkunde der hessischen Landgräfin Sophie von Brabant vom 15. Oktober 1258 erwähnt. Darin bestätigt sie, dass der Marburger Bürger Hermann Zöllner dem Prämonstratenserinnen-Kloster Altenberg bei Wetzlar „Güter zu Gossfelden, Marburg, Cyriaxweimar und Dagobertshausen“ geschenkt hat. Zugleich wird dem Kloster dort Steuerfreiheit gewährt. Die Urkunde ist verloren gegangen, wird aber in den „Regesten“ (Registern) der Landgrafen von Hessen aufgeführt. Mit dieser Schenkung erwirbt das Kloster Altenberg zum ersten Mal Grundbesitz im Marburger Raum, während bis zu dieser Zeit seine Besitzungen im wesentlichen an der mittleren Lahn bei Wetzlar und an der Dill liegen.
Die Landgräfin ist die ältere Tochter der hl. Elisabeth; sie wurde im März 1224 auf der Wartburg geboren und war seit 1239/1240 mit dem Herzog Heinrich II. von Brabant verheiratet. Ihre am 27. September 1227 geborene Schwester Gertrud (s.u.) war seit 1248 Priorin, genannt Magistra (Meisterin), des Klosters Altenberg.
Hermann Zöllner (gest. 1260) gehörte zu einer der führenden Familien des Marburger Patriziats (vermutlich als Kaufmann, auch als Schöffe tätig) und hat bereits am 28. August 1257 für die kranken Schwestern des Klosters zwei Malter „Korngülte“ (Ertrag eines Kornackers) und 1258 (vor Oktober) sein Haus in Marburg dem Kloster Altenberg geschenkt. An seinem Lebensende hat er außerdem den Deutschen Orden in Marburg mit drei umfangreichen Stiftungen beschenkt. Seine reichen Güter in der Umgebung Marburgs waren teilweise Lehen der Schenken von Schweinsberg und über diese der Grafen von Solms.
(Die Ausführungen über das Kloster Altenberg werden weitgehend dem Buch von Thomas Doepner „Das Prämonstratenserinnenkloster Altenberg im Hoch- und Spätmittelalter“, Marburg 1999, entnommen.)
2 Die mittelalterliche Schenkungs- und Memorialpraxis
Zwar sind Stiftungen auch heute nichts Ungewöhnliches; sie gewinnen wegen der notorischen Geldnöte der öffentlichen und kirchlichen Kassen wieder größere Bedeutung. Trotzdem fragen wir uns heute, was die Stifter im Mittelalter bewogen hat, derartig großzügige Schenkungen besonders an Klöster vorzunehmen, die deren zunehmenden Reichtum begründen. (Der Reichtum der Klöster führte später oft zu deren innerem Niedergang, rief aber auch Neider aus adligen Kreisen auf den Plan, die dann die Auflösung von Klöstern betrieben und sich an deren Besitzungen bereicherten – was schon in der Reformationszeit, erst recht aber im Zuge der Säkularisation um 1800 festzustellen ist.)
Eine Urkunde im Archiv der Grafschaft Solms aus dem Jahr 1258 gibt auf diese Frage eine lapidare Antwort, wenn es dort heißt: „Hermann Zöllner, Bürger in Marburg, schenkt zum Seelenheil an das Kloster Altenburg sein Haus in Marburg, das Heinrich Circhein bewohnt.“ Das beschenkte Kloster bzw. der Konvent dieses Kloster übernimmt mit der Annahne einer Stiftung die Verpflichtung, regelmäßig für den Stifter und sein Seelenheil zu beten und die Hl. Messe (Eucharistie) zu feiern (eine als „Seelgerät“ bezeichnete Vereinbarung). Damit ist ein entscheidendes Motiv für Schenkungen an Klöster benannt, das für viele Zeitgenossen heute nicht mehr zu verstehen ist, weil das Seelenheil für sie keine erstrebenswerte Größe mehr darstellt und es ihnen nur um das irdische Wohlergehen geht. Die Überzeugung, durch Schenkungen bzw. Stiftungen für sein Seelenheil „vorsorgen“ zu können, ist verbunden mit dem Glauben an eine unsterbliche Seele und ein Leben nach dem Tod, näherhin aber mit der Vorstellung, dass die Seele, wenn sie noch nicht hinreichend für ihre Sünden gebüßt hat bzw. noch mit Sündenstrafen behaftet ist, nicht gleich „in den Himmel kommt“, sondern zunächst an einen „Fegefeuer“ genannten Reinigungsort (lat. purgatorium; vgl. Dantes „Göttliche Komödie“). Diese Vorstellung entwickelt sich erst allmählich im Laufe der Kirchengeschichte, als die Frage immer drängender wird, was mit Menschenseelen geschieht, die „in lässlichen Sünden“, die keine vollständige Trennung von Gott bedeuten wie die „Todsünde“, sterben, ob ihnen auch noch nach dem Tod der Himmel offen bleibt. Der Gedanke an einen „Reinigungsort vor dem Himmel“ hat seine Wurzel bei dem Kirchenvater Augustinus (354 - 430), findet seine Ausprägung aber erst im hohen Mittelalter. (Vgl. Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984). Weiterhin ist damit die Vorstellung verbunden, dass die lebenden Hinterbliebenen durch Gebet und fromme Übungen dem Verstorbenen helfen können, die Zeit der „Reinigung“ abzukürzen. Mit dem guten Werk der Schenkung ist aber auch die Hoffnung verbunden, dass diese Wohltat Vergehen und Sünden schon zu Lebzeiten ausgleichen oder wieder gutmachen kann. Nur vor diesem Hintergrund ist die Ablasspraxis der Kirche zu verstehen, deren missbräuchliche Handhabung („Verkauf“ von Ablassbriefen) bekanntlich einen wesentlichen Anstoß zur Reformation gab. Ein offensichtlich nicht auszurottendes Missverständnis hinsichtlich des (von der katholischen Kirche nicht abgeschafften) Ablasses besteht darin, dass Sünden und Sündenstrafen miteinander verwechselt werden. Beim Ablass geht es einzig und allein um die Sünden s t r a f e n, die aufgrund eines „guten Werkes“ nachgelassen oder verkürzt werden können. Die in der „communio sanctorum“ wie in einem Organismus miteinander verbundenen Gläubigen können nach Auffassung der katholischen Kirche solche „guten Werke“ auch füreinander bzw. stellvertretend für die Verstorbenen „vollbringen“. Das ist aber nur „im Stande der Gnade“ (nach Reue und Umkehr bzw. Buße) möglich, indem Gläubige Anteil erhalten am sogenannten „thesaurus ecclesiae“, dem durch Jesus Christus und die Heiligen erworbenen Gnadenschatz der Kirche. Ohne dieses Verständnis von Kirche ist der Ablass überhaupt nicht zu verstehen.
Ein weiteres Motiv für Schenkungen und Stiftungen lag in der „memoria“, d.h. dem permanenten Gedenken des Verstorbenen mit Nennung seines Namens im Gottesdienst, wozu sich die beschenkten Konvente ausdrücklich verpflichteten. Dieses Motiv geht letztlich zurück auf die der christlichen Kirche und dem Judentum gemeinsame Überzeugung, dass die Lebenden dafür zu sorgen haben, dass die Namen der Verstorbenen und damit ihre Träger nicht vergessen werden, weil die Toten weiterhin zur Gemeinschaft der Gläubigen gehören. („Tot ist nur der, dessen Name vergessen ist.“) Darauf beruht die christliche Begräbniskultur – und auch das besondere Totengedenken in den Klöstern, aber auch in den Gemeinden und Familien an Gedenktagen wie Allerheiligen, Allerseelen und dem Toten- bzw. Ewigkeitssonntag. Eine rituelle, in Kirchen lokalisierte Ausprägung der „memoria“ war ursprünglich allerdings besonders verehrten und heilig gesprochenen Gläubigen vorbehalten.
3 Der Prämonstratenser-Orden
Der 1121 entstandene Orden der Prämonstratenser führt seinen Namen auf den Gründungsort Prémontré im Bistum Laon in Nordfrankreich zurück.
Dort hatte sich auf Empfehlung des Ortsbischofs der ehemalige Stiftskanoniker Norbert von Xanten mit einer Gruppe Gleichgesinnter niedergelassen. Norbert stammte aus dem niederrheinischen Adelsgeschlecht derer von Gennep in der heutigen Provinz Limburg in den Niederlanden (geb. ca. 1082, gest.1134 in Magdeburg). Er trat in jungen Jahren als Regularkleriker (bzw. Kanoniker) in das Stift St. Viktor in Xanten ein. Ein Kanoniker-Stift ist kein Kloster (von „claustrum“, vgl. Klausur) im engen Sinne, sondern eine Gemeinschaft von Weltpriestern, die für die Seelsorge in einer Region zuständig sind und in einem Konvent bei einer größeren Kirche leben, allerdings nach einer Regel (deshalb reguliert) bzw. einer „Richtschnur“ (Kanon) im Sinne des Kirchenrechts. Besonders aus dem Adel stammende Regularkleriker waren oft nur bedingt bereit, auf ihre Privilegien und ihren Besitz zu verzichten. Aus Protest gegen diese Verweltlichung verließ Norbert um 1115 das Stift St. Viktor und zog als Wanderprediger durch Deutschland und Frankreich, nachdem er bei einem Gewitter in Lebensgefahr geraten war, sich vom weltlichen Leben abgewandt und vergeblich versucht hatte, das Stift in Xanten zu reformieren. Da die damaligen Vorstellungen vom Ordensleben sich nicht mit einem Leben als Wanderprediger vereinbaren ließen, übernahm Norbert für seine Gemeinschaft die sogenannte Augustinusregel (auf den Kirchenvater Augustinus, 354 – 430, zurückgehend), die die „evangelischen Räte“ (Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam) als Lebensform, das regelmäßige gemeinsame Chorgebet, die Arbeit in der Seelsorge und das Leben in einem Konvent bei einer Kirche vorsieht, nicht aber das Leben in der Klausur, wie es die Regel des hl. Benedikt vorschreibt. 1121 legte Norbert zusammen mit 40 anderen Klerikern die feierlichen Gelübde ab.
Von Prémontré aus gründete Norbert weitere Niederlassungen seiner Ordensgemeinschaft sowie zusammen mit der französischen Adligen Ricuera de Clastre einen weiblichen Zweig (einen sogenannten II. Orden) und sah für alle Niederlassungen Doppelklöster (also männliche und weibliche Konvente unter einem Dach) vor, was sich aber aus Gründen der Disziplin nicht durchhalten ließ und schon ab 1137 und endgültig 1140 aufgegeben wurde. Die Nonnen wurden dann in der Nähe der Abteien angesiedelt, mit denen ihr Kloster aber weiterhin eine administrative Einheit bildete, so dass die Priorin bzw. die Magistra dem Abt des Mutterklosters untergeordnet blieb.
Das erste Prämonstratenser-Kloster auf deutschem Boden entstand in Cappenberg bei Lünen a.d.Lippe, nachdem der junge Graf Gottfried III. von Cappenberg seinen Besitz (neben der Burg Cappenberg u.a. auch in Ilbenstadt in der Wetterau) an den Orden verschenkt und selbst in den Orden eingetreten war. Auch Gottfried hatte sich vom weltlichen Leben abgewandt, als er nach einer Schlacht um Münster in Westfalen zwischen kaiserlichen Truppen und einem Heer des mit dem Papst sympathisierenden Herzogs Lothar von Sachsen, dem er selbst angehörte, die fürchterlichen Folgen sah: eine niedergebrannte Stadt und einen zerstörten Dom. Gottfried konnte selbst seine Frau Jutta von Arnsberg dazu bewegen, in ein ebenfalls in Cappenberg gegründetes Prämonstratenserinnen-Kloster einzutreten. Als Norbert sich zum Erzbischof von Magdeburg, wo er ebenfalls ein Kloster („Zu unserer Lieben Frau“) gegründet hatte, wählen ließ und damit zum Reichsfürsten wurde, kam es zu einer Entfremdung zwischen Norbert und Gottfried. Auf einer Reise von Magdeburg nach Ilbenstadt erkrankte Gottfried und starb im Alter von 29 Jahren in Ilbenstadt. Auch dort war unweit der Abtei ein Prämonstratenserinnenkloster gegründet worden. Im Raum Marburg erfolgte 1186 die Gründung des Doppelklosters Hachborn (heute zu Ebstorfergrund gehörig / s.u. S. 6), das aber schon bald als reines Frauenstift weitergeführt wurde.
Heute gibt es im deutschsprachigen Raum 11 Abteien und Priorate (7 in Deutschland – u.a. in Fritzlar; 2 in Österreich, 1 in der Schweiz).
4 Das Prämonstratenserinnen-Kloster Altenberg – Gründung und Zielsetzung
Die Gründung des Klosters Altenberg erfolgte in Verbindung mit der Prämonstratenser-Abtei Rommersdorf bei Neuwied am Rhein. Weder über die Gründung noch ihre Umstände liegen Quellen vor; nach der Gründungslegende, die sich geschichtlich aber nicht belegen lässt, hat der Wanderprediger Gottfried von Beselich das Kloster gegründet. Am wahrscheinlichsten ist nach Thomas Doepner, dass ein nicht bekannter Vertreter der Reichsvogtei Wetzlar dem Kloster Rommersdorf eine Kapelle auf dem Michaelsberg bei Oberbiel übertragen und die Ansiedlung von Nonnen aus Wülfersberg, einem Prämonstratenserinnnen-Priorat, das zur Abtei Rommersdorf gehörte und in deren Nähe lag, angeregt hat. Dies ist umso wahrscheinlicher, als sich aus späteren Urkunden belegen lässt, dass das Kloster Altenberg eine enge Bindung an das staufische Königshaus und die Reichsvogtei Wetzlar besaß, die in der Gewährung der Reichsunmittelbarkeit durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa im 12. Jahrhundert (vor 1192) ihren Niederschlag fand. Eine Gründung bzw. Stiftung durch die Grafen von Solms oder die Grafen von Nassau kommt deshalb weniger in Frage, auch wenn beide Dynastien zeitweilig Altenberg zu ihrer Grablege machten und mehrere Priorinnen und Nonnen aus diesen hochadligen Herrscherhäusern stammten. Die große Bedeutung Altenbergs wird dadurch unterstrichen, dass neben Wetzlar, Solms und Nassau auch die Landgrafschaft Hessen zunehmend Einfluss auf die Entwicklung des Klosters nimmt – nicht zuletzt durch die besonderen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kloster und dem Herrscherhaus seit den Tagen der hl Elisabeth (s. 5).
Die Zielsetzung weicht wie bei allen mittelalterlichen Gründungen von Frauenklöstern von der der Männerklöster ab, soweit es sich um Seelsorgsorden handelte. Für alle Frauenklöster war die Klausur zwingend vorgeschrieben. Eine (seelsorgliche oder sonstige Art von) Tätigkeit von Nonnen außerhalb des Klosters war schlechthin undenkbar. Allenfalls die Krankenpflege in einem Hospital im Klosterbezirk war möglich, wie es im Kloster Altenberg der Fall war. (Die in der Zeit der Kreuzzüge entstandenen Hospitalorden waren sämtlich Männerorden wie die Johanniter/Malteser und der Deutsche Orden.) Die Aufgabe der Nonnenklöster bestand also wesentlich im stellvertretenden Gebet bzw. Gotteslob in Form des Chorgebets und der Eucharistiefeier (hl. Messe). Dieser Dienst wurde von den Gläubigen hoch geschätzt (wie die zahlreichen Schenkungen und Stiftungen belegen) und von den Männerklöstern derselben Ordensgemeinschaft als wesentliche Hilfe für ihre Arbeit außerhalb der Klostermauern verstanden.
5 Die besondere Beziehung des Klosters zu Marburg und seiner Umgebung durch die
die hl. Elisabeth und ihre Tochter Gertrud, Meisterin des Klosters im 13. Jahrhundert
Die besondere Beziehung des Klosters zu Marburg und zur Landgrafschaft Hessen beginnt, als die hl. Elisabeth auf Anraten ihres Beichtvaters und Seelenführers Konrad von Marburg ihre im September 1227 geborene Tochter Gertrud im Alter von knapp zwei Jahren dem Kloster zur Erziehung anvertraut. Nach der Tradition hat sie ihr Kind selbst nach Altenberg gebracht. Der Weg dorthin ist heute als Elisabethpfad ausgewiesen. Die Empfehlung Konrads ist wohl damit zu erklären, dass dieser die Mutterabtei Rommersdorf bei Neuwied am Rhein und dessen Abt gut kannte, aber auch die Disziplin des Konvents in Altenberg besonders hoch einschätzte, was wohl bei dem näher bei Marburg gelegenen Kloster Hachborn nicht der Fall war, das zunächst ähnlich wie Rommersdorf ein Doppelstift war. (vgl. Christina Vanja: Besitz- und Sozialgeschichte der Zisterzienserinnenklöster Caldern und Georgenberg und des Prämonstratenserinnenstiftes Hachborn in Hessen im späten Mittelalter“, Darmstadt und Marburg 1984) Nach Thoma Doepner „dürften die Prämonstratenserinnen zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Vorgaben der Regel noch in vorbildlicher Weise umgesetzt und ihnen nachgelebt haben.“ Das galt auch sicher für Altenberg 1229 noch, weil – so Doepner - „die Vaterabtei Rommersdorf seit der Mitte des 12. Jahrhunderts eines der wichtigen Reformzentren im rechtsrheinischen Teil der Diözese Trier war“, weshalb „ihr von Konrad von Marburg, der der Armutsbewegung nahe stand, besondere Wertschätzung entgegengebracht wurde. Dass Konrad als Beichtvater Elisabeths 1228/1231 sogar einen Eintritt der thüringischen Landgräfin, über deren radikale Armutsvorstellungen kein Zweifel bestand, in den Konvent erwogen hatte, wird man als deutlichen Hinweis auf die anspruchsvolle Strenge und asketische Härte der Altenberger Schwestern im frühen 13. Jahrhundert werten können.“ (S. 76)
Gertrud lebt bis zu ihrem Tod am 13. August 1297 im Kloster Altenberg, leitet es fast 50 Jahre lang als Magistra und führt es zu seiner Hochblüte, was sich sowohl in der steigenden Zahl der Nonnen (von 24 auf 70) als auch in umfangreichen Neubauten (s.u. 7) niederschlägt. Mit dem Gunsterweis durch die Landgräfin Sophie 1258 beginnt eine intensivere Bindung des Klosters Altenberg an die Landgrafschaft Hessen, die nach dem thüringischen Erbfolgestreit als eigenes Fürstentum aus der Landgrafschaft Thüringen herausgelöst worden war. Die Schenkung erfolgt auf Bitten der Meisterin Gertrud. Am 24. Juni 1264 nimmt die Landgräfin die Güter des Klosters unter ihren besonderen Schutz. Am 27. Juli 1268 weist sie ihrer Schwester Gertrud 200 Mark (Goldmark) als Erbteil zu. Zweimal besucht sie selbst das Kloster (4.11.1270 und 2.6.1271). Ihr Sohn Heinrich I. hilft dem Konvent gegen die Grafen von Solms, die um 1270 versuchen, das Kloster unter ihre Oberhoheit (als Vogtei) zu bringen. Der Tatkraft Gertruds ist es zu verdanken, dass sie um 1270 beim König einen Schiedsspruch erwirken kann, der dem Kloster die Reichsunmittelbarkeit sichert, die bis zur Auflösung 1802 (s.u. 7) erhalten bleibt.
Wegen dieser besonderen verwandtschaftlichen Beziehungen ist es nicht verwunderlich, dass das Kloster Altenberg zu einem Zentrum des Elisabethkultes und damit die Verbindung mit Marburg noch enger wird.
6 Dagobertshausen und das Kloster Altenberg bis 1509
Thomas Doepner weist noch 16 weitere urkundliche Erwähnungen Dagobertshausens in der Zeit bis 1509 nach. Die letzte Erwähnung erfolgt am 29. August 1509; in dieser Urkunde heißt es, dass „das Kloster Altenberg an Johann von Leun, gen. Mohr, seinen Hof zu Dagobertshausen verkauft bzw. dafür von ihm Güter in Biel, Bissenberg und Biskirchen an der Lahn bzw. im Ulmtal erhält, womit es teilweise zugleich Schulden begleicht, die Johann von Leun gegenüber dem Marienstift in Wetzlar hat“. Erkennbar ist daran, dass das Kloster darum bemüht ist, seinen weit verstreuten Besitz auf das mittlere Lahntal zu konzentrieren. (Doepner S. 50 und 419)
Damit endet die gemeinsame Geschichte des Klosters Altenberg und Dagobertshausens nach 251 Jahren.
1273 heißt es in einer Urkunde, dass das Kloster „seine Güter in Dagobertshausen als Unterpfand dafür setzt, dass es für die Gossfeldener Güter rechte Währschaft leisten wird“. 1277 kommt es zu einer weiteren Schenkung von Gütern zu Dagobertshausen durch „Engelbert gen. Engel, Marburger Schöffe, und seine Ehefrau Mechthild“. Zu „ihrem Seelenheil“ (vgl. S. 3) geben diese außerdem Güter in Haddamshausen und Uffenbach an das Kloster Altenberg. 1280 verkauft der Sterzhausener Pfarrer Gumpert „die St. Antoniusgüter in Dagobertshausen dem dort weilenden Konversen (Laienbruder als Verwalter) Menger und dem Kloster Altenberg“. Eine Arrondierung des Altenberger Besitzes in Dagobertshausen erfolgt 1283, als „Rudolf von Dagobertshausen zugunsten von Altenberg auf die Güter zu Dagobertshausen verzichtet, die sein verstorbener Bruder Heinrich von ihm gekauft und dann dem Kloster ‚zum Seelenheil’ (s.S.3) vermacht hatte“, und Konrad von Milchling, Burgmann zu Mellnau, seinen Besitz zu Dagobertshausen an das Kloster verkauft“. Im 14. Jahrhundert findet mehrfach ein Gütertausch zwischen dem Kloster und anderen Grundherren statt, so 1321 zwischen Osterlind, der Witwe des Ritters Konrad von Weitershausen, 1333 und 1357 zwischen der Kirche in Elnhausen und dem Kloster, der dessen Besitz in Dagobertshausen betrifft. 1353 verkaufen Eberhard Döring und seine Angehörigen ihr „neben dem Altenberger Hof liegendes Gut“ an das Kloster.
Dass das Kloster Güter kaufen kann und nicht mehr nur auf Schenkungen angewiesen ist, lässt erkennen, welche Bedeutung, aber auch welchen Reichtum das Kloster inzwischen erworben hat. Eine von Thomas Doepner entworfene Landkarte zeigt Besitzungen in ca. 150 Dörfern und Städten an Lahn und Dill und in der Wetterau.
Zeitweilig verpachtet das Kloster seinen Hof in Dagobertshausen an Henne von Weitershausen, Heinz von Ammenhausen und Eckard von Mornshausen (1364 – 1370). 1359 und 1391 kommt es wegen der Nutzung des Dagobertshauser Waldes zu Streitigkeiten zwischen dem Pfarrer Volpracht von Elnhausen und dem Kloster, die durch Vermittlung des Pfarrers Ludwig Bicken von Gladenbach (1359) und des Landgrafen Hermann (1391) dahingehend beigelegt werden, das dem Pfarrer von Elnhausen ein Achtel des Dagobertshäuser Waldes zur Nutzung überlassen wird. Nach Elnhausen eingepfarrt wird Dagobertshausen allerdings erst 1657, nachdem es bis dahin zur Pfarrei Michelbach gehört hatte.
7 Abriss der Geschichte des Klosters bis heute
Gertrud, die vermutlich 1348 selig gesprochene Magistra des Klosters, veranlasst ab 1251 umfangreiche Neubauten. Die heutige Kirche entsteht in dieser Zeit und erinnert in ihrer gotischen Ausprägung an die Elisabethkirche in Marburg. 1271 ist der Chor mit dem Hochaltar bereits errichtet und wird für den Gottesdienst genutzt; das Langhaus mit dem Nonnenchor dürfte erst um 1300 errichtet worden sein. Bereits vor 1265 wird das Elisabeth-Hospital, ein Siechenhaus für kranke Nonnen errichtet, dem das 1277 erstmalig erwähnte Hospital für arme Kranke aus der Umgebung am Fuß des Berges folgt. Ab 1271 werden ein neues Konventsgebäude und Nebenbauten (Ökonomie) erstellt. Diese Baumaßnahmen sind nur aufgrund der durch zahlreiche Schenkungen erworbenen wirtschaftlichen Basis des Klosters möglich.
Die hohe Wertschätzung Gertruds kommt in dem Hochgrab vor dem Hochaltar zum Ausdruck, das vermutlich anlässlich ihrer Seligsprechung 1348 entstanden ist, auf dem Gertrud als Lebende dargestellt wird und das die (lat.) Inschrift trägt: „Im Jahre des Herrn 1297 am Tag des hl. Hyppolit (d.i. der 13 August) verstarb die selige Gertrud, die glückliche Mutter des Konvents, die Tochter der heiligen Elisabeth, der Landgräfin von Thüringen“.
Im 14. Jahrhundert (nicht näher datierbar) wird der Innenraum der Kirche durch eine umfangreiche Freskenmalerei ausgestaltet, darunter eine Darstellung der Krönung Mariens im Kreis der Apostel (1949-50 freigelegt und wiederhergestellt).
Nach dem Tod Gertruds verliert das Kloster an Bedeutung, kann aber seine Selbständigkeit behaupten und schließlich das Wohlwollen der Grafen von Solms erlangen, die die Kirche zu ihrer bevorzugten Grablege machen. Während die Grafen von Solms wie die Landgrafen von Hessen sich der Reformation anschließen, kann sich das katholische Kloster inmitten einer evangelischen Umgebung (nicht zuletzt dank seiner Reichsunmittelbarkeit) bis 1802 halten. Ein neuerlicher Aufschwung im 18. Jahrhundert ermöglicht eine Barockausstattung der Kirche. Von besonderem Wert ist die bis heute erhaltene von Johann Wilhelm Schöler aus Bad Ems 1757 geschaffene Barockorgel.
Nach dem sogenannten Reichsdeputationshauptschluss kommt es dann zur Auflösung bzw. Säkularisierung des Klosters. Die Kirche wird der evangelischen Pfarrei Oberbiel als Pfarrkirche zugewiesen, während die Konventsgebäude und die Ökonomie an die Grafen von Solms fallen, die das daraus gebildete Hofgut verpachten.
1946 wird in den Konventsgebäuden ein Kindererholungsheim des Hilfswerks der Evangelischen Kirche untergebracht. 1952 fallen große Teile dieser Gebäude einem Brand zu Opfer. Der Wiederaufbau erfolgt 1953-1955 durch die aus Königsberg vertriebenen Diakonissen, die die Gebäude in Erbpacht von den Grafen von Solms übernehmen, dort ihr Mutterhaus „Zur Barmherzigkeit“ einrichten und sich der Betreuung von alten Menschen im eigenen Pflegeheim, in anderen Pflegeheimen und zu Hause widmen. Nach der geplanten Verlegung des Pflegeheims nach Wetzlar soll nach Auskunft der Diakonissen ein „Haus der Stille“ entstehen, das sich bisher in Greifenstein-Elgershausen befindet und 1992 von der „Initiative zur Förderung des geistlichen Lebens“ gegründet und von der Kirchenleitung gefördert wurde. Damit kehrt nach der Seelsorge und der Diakonie eine Form des kontemplativen Lebens in das ehemalige Kloster zurück.
8 Der Name „Dagobertshausen“
Der eher ungewöhnliche Name Dagobertshausen deutet darauf hin, dass es sich bei der Ansiedlung ursprünglich um einen Gutshof (wahrscheinlich königliches Lehen) gehandelt haben könnte, der in der Zeit der Karolinger (7.- 10. Jahrhundert) im Zuge einer großflächigen Waldrodung entstanden ist, über den aber mit Hilfe historischer Quellen nichts auszumachen ist. Die geäußerte Vermutung liegt deshalb nahe, weil es in der fränkischen Geschichte drei karolingische Könige mit dem Namen „Dagobert“ gegeben hat. Sie herrschten im östlichen, Austrasien genannten, Teil des damaligen Frankenreiches, zwischen Maas, Ardennen und Vogesen (Dagobert I. 629-639; Dagobert II. 656-660 und 676-679, zeitweilig entmachtet, 679 ermordet; Dagobert III. 711-715).
Bemerkenswert ist allerdings, dass in den Akten des Klosters Altenberg (s.u.) auch andere Namen für den Hof Dagobertshausen auftauchen, nämlich Dabrashusen 1280 und Dabraichtshusen 1333. In anderen Urkunden erscheinen noch weitere Varianten des Namens: Dabretshusen 1260, Deibratishusin 1263 (so bei Arthur Wyss: Hessisches Urkundenbuch,. Urkundenbuch der Deutschordensballei Hessen 1207-1359), Dabreshusen 1280 (so bei V. E. Gudenius: Codex diplomaticus anecdotorum res Mogontinas … illustratium, Frankfurt und Leipzig 1743-1758), Debirtzhusen 1374 (ZHG), Daubertshausen 1562 (GR Marburg).
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass es einen weiteren Ort namens Dagobertshausen in Hessen gibt, der heute ein Stadtteil von Melsungen ist und 1106 erstmalig in einer Chronik des Klosters Hersfeld als Dageboldeshusun vermerkt wird.
Dr. Siegfried Schröer
„Wir sind ein Volk“
- (m)eine kleine gesamtdeutsche Geschichte –
1949 | Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Werner Tittmann, mein erster Klassenlehrer auf dem Gymnasium, stammt aus Klingenthal im Erzgebirge. Er vermittelt uns als Erdkundelehrer nicht nur fundierte Kenntnisse über Ost- und Mitteldeutschland, sondern macht uns auch bewusst, was es bedeutet, dass Deutschland ein geteiltes Land ist. Wir lernen, dass wir Deutschen trotzdem e i n Volk bleiben. |
1952 | Unsere Schülermitverwaltung, zu der ich als Klassensprecher gehöre, bekommt Adressen von Familien aus der DDR, denen wir Pakete schicken wollen. Unsere Klasse bekommt die Adressen von Frau Jutta Dallmer aus Leipzig und Frau Anneliese Meier aus Rostock. Wir packen Pakete mit Lebensmitteln und Haushaltsgegenständen, die in der DDR schwer oder gar nicht zu bekommen sind. Wichtig sind ein in das Paket gelegtes Verzeichnis der geschickten Waren und der Vermerk „Geschenksendung – keine Handelsware“. Das Paket an Frau Meier kommt wieder zurück. Frau Dallmer, eine alleinerziehende Mutter, und ihre Tochter Isa Streller bedanken sich für das Paket, und wir schicken von nun an während unserer gesamten Gymnasialzeit Pakete und Briefe nach Leipzig. Persönlich kennen gelernt haben wir uns nie. Die Reisebeschränkungen seitens der DDR machten ein Treffen unmöglich. |
1959 | Während meines Theologie-Studiums in München arbeite ich im Caritas-Kreis der Katholischen Hochschulgemeinde mit. Wir bekommen über die Caritas Adressen von Kommilitonen aus der DDR. Geplant ist die persönliche Kontaktaufnahme mit Studenten des jeweils eigenen Studiengangs. Ich bekomme die Adresse von Gerhard Mahlow, der in Erfurt katholische Theologie studiert und ebenfalls Priester werden will. Es beginnt zwischen uns beiden eine regelmäßige Korrespondenz. |
1960 | Ich fahre von München aus mit einer Gruppe von Studenten für drei Tage nach Berlin. Es gibt noch keine Mauer, und wir können uns problemlos zwischen den Sektoren der Stadt bewegen. Wir machen eine Schiffsfahrt auf dem Müggelsee im sowjetischen Sektor, besuchen das Pergamonmuseum und die Komische Oper - ebenfalls im Ostteil der Stadt. In der Oper sehen wir eine Felsenstein-Inszenierung der „Zauberflöte“. |
1961 | Berlin wird durch die Mauer geteilt und Westberlin völlig von der DDR abgeriegelt. Ich erfahre vom Bau der Mauer bei einem Aufenthalt in Frankreich. In den vorangegangenen Monaten haben ca. 1000 bis 3000 Menschen täglich die DDR verlassen – in der Regel über den S-Bahnhof Friederichstraße in Berlin. Der Exodus hat schon den 50er Jahren begonnen, so dass bis 1961 ca. 1,5 Millionen Bürger die DDR verlassen haben. Das als „Republikflucht“ bezeichnete „illegale“ Verlassen der DDR bzw. der entsprechende Versuch gilt als Verbrechen. Hunderte haben diesen Versuch mit dem Leben oder langjähriger Kerkerhaft bezahlt. Die Mauer war eigentlich eine Bankrotterklärung des Regimes und des Systems. Leider hat sie trotzdem 28 Jahre lang auf brutalste Weise ein Volk und viele Familien geteilt und auseinandergerissen. |
1964 | Ich fahre mit meiner Schwester und meinem Schwager für einige Tage nach Berlin. Wir sind schockiert, als wir vor der Mauer stehen und den Grenzübergang Heinrich-Heine- / Prinzenstraße passieren. Wir treffen uns mit Gerhard Mahlow, der inzwischen als Kaplan in Berlin-Niederschönhausen im Ostteil der Stadt arbeitet. Ich treffe mich mit ihm nun regelmäßig und fahre jedes Jahr mindestens einmal nach Berlin, meist mit Gruppen von jungen Menschen, schließlich auch mit zwei Schulklassen aus Iserlohn (1968), wo ich mittlerweile am Gymnasium arbeite, später auch mit einer Klasse aus Frankfurt (1974). Mehrere Besuche in Ostberlin gehören zum Standardprogramm jeder Reise. Inzwischen habe ich einige junge Leute aus Hennigsdorf bei Berlin (in der DDR gelegen) kennen gelernt, wohin Gerhard Mahlow zwischenzeitlich versetzt worden ist. Wir treffen uns weiterhin im Pfarrhaus in Niederschönhausen, denn eine Einreise in die DDR ist mir nicht erlaubt. Ostberlin wird von dem DDR-Regime und den Sowjets als „Hauptstadt der DDR“ bezeichnet, was aber dem Viermächte-Abkommen widerspricht und von den Westmächten nicht anerkannt wird. Wir gehen dort ins Theater, in die verschiedenen Museen, schauen uns in der Stadt um und treffen uns mit den jungen Leuten aus Hennigsdorf – meistens in einem Café im „Haus des Lehrers“ an der Karl-Marx-Allee bzw. am Alexanderplatz. Mehrfach bin ich Gast einer Familie, die in einem Plattenbau an der Karl-Marx-Allee lebt und über die ich die Korrespondenz mit meinem Hennigsdorfer Freund Bernhard Hundt weiterführe, der drei Jahre Wehrdienst bei der NVA abzuleisten hat und jeden Westkontakt meiden muss. |
1973 | Der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR bringt Erleichterungen im innerdeutschen Reiseverkehr. Bernhard Hundt lädt meine Frau und mich für eine Woche nach Jena, seinen Studienort, ein. Nachdem wir das Einreise-Visum erhalten haben, fahren wir mit dem sogenannten Interzonenzug von Frankfurt nach Jena. Der Zug ist voll besetzt. Auf der Grenzstation müssen wir mit unserem Gepäck den Zug verlassen und eine Kontrollstation passieren, wobei wir den üblichen Schikanen durch die Volkspolizei ausgesetzt sind. Es wird eine Tagesreise. In Jena angekommen, müssen wir uns sofort bei der Polizei melden; wir werden darüber informiert, dass wir das Kreisgebiet nicht verlassen dürfen. Nach Weimar dürfen wir fahren, um im Nationaltheater „Figaros Hochzeit“ zu erleben. Trotz des Verbots riskieren wir eine Fahrt in den Nachbarkreis nach Naumburg und zu den Dornburger Schlössern; wir werden zum Glück nicht kontrolliert. |
1974 | Wir vereinbaren mit B. Hundt und einigen seiner Freunde einen gemeinsamen Urlaub in Karpacz (früher Krummhübel) im Riesengebirge (Polen). Wir fahren mit dem PKW auf der Transitstrecke, die wir nicht verlassen dürfen, durch die DDR. In Polen können wir uns landesweit ohne Einschränkungen bewegen. Wir machen eine Tagestour nach Breslau und eine Wanderung auf die Schneekoppe. Diese Wanderung hätte für mich beinahe hinter „schwedischen Gardinen“ in der CSSR geendet. Als ich „mal ins Gebüsch muss“, sage ich zu den anderen: „Lauft schon mal weiter. Ich komme gleich nach.“ Plötzlich steht ein Grenzer vor mir und verlangt meinen Ausweis. Aber: ich habe ihn nicht mitgenommen! (Die Grenze „der Freundschaft“ zwischen Polen und Tschechien läuft über den Kamm des Riesengebirges und die Schneekoppe.) Ich kann weder polnisch noch tschechisch sprechen, kann dem Grenzer lediglich die Adresse unserer Pension in Karpacz nennen und mit Händen und Füßen auf ihn einreden. Er lässt mich schließlich laufen. |
1975 |
Die Geburt unserer Kinder, der Kauf einer Ferienwohnung an der Nordsee (wo unser Sohn von seiner chronischen Bronchitis geheilt werden soll) und der Bau des Hauses in Usingen schränken meinen Bewegungsspielraum erheblich ein – jedenfalls was die Fahrten nach Berlin und in die DDR betrifft. Lediglich die Teilnahme am Katholikentag 1980 in Berlin gibt mir die Möglichkeit zu einem Abstecher nach Ostberlin, wo ich Bernhard Hundt mit seiner Familie treffe. Er ist inzwischen verheiratet und hat zwei Kinder. Ich werde ihn erst 1990 unter wenig erfreulichen Umständen wiedersehen.
In der Schule habe ich Gemeinschaftskunde in der Oberstufe zu unterrichten, in der das Thema „Zweimal Deutschland“ fest zum Repertoire gehört. Die Schüler werden dabei eingehend über die Situation in der DDR und die innerdeutschen Beziehungen nach dem Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten (1972) unterrichtet. |
1985 | Ich werde Direktor des Pädagogischen Zentrums der Bistümer in Hessen und habe u.a. die Aufgabe, Seminare im Bereich der politischen Bildung durchzuführen. Zunehmend rücken die Vorgänge in den Ostblockstaaten in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses: die Entstehung der Gerwerkschaft „Solidarnosc“ und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen, die Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und die Perestroika, die Massenflucht von DDR-Bürgern in die Botschaften der Bundesrepublik in Warschau, Prag und Budapest. Das Friedensgebet in den Kirchen der DDR wird zur Spitze einer wachsenden Protestbewegung gegen das Regime. |
1988 | Ich führe ein Seminar mit dem Thema „ Die Rolle der Kirche in Polen“ durch und plane zusammen mit dem Gesamteuropäischen Studienwerk in Vlotho eine Studienreise nach Polen. Inzwischen hat Johannes Paul II. (Karol Woytila), der erste polnische Papst, nicht zuletzt durch die Reisen in seine Heimat und die offene Unterstützung der Solidarnosc das kommunistische Regime in schwere Bedrängnis gebracht. In der DDR haben sich die Friedensgebete zu mächtigen Montagsdemonstrationen entwickelt, an denen schließlich Hunderttausende teilnehmen. |
1989 | Die Ereignisse überschlagen sich: In Polen kann die Solidarnosc erste teilweise freie Wahlen durchsetzen (35 % der Abgeordneten des Sejm können Anfang Juni frei gewählt werden. Die Solidarnosc gewinnt alle diese Sitze). Ungarn öffnet im Sommer den „Eisernen Vorhang“. Die in die Botschaften der Bundesrepublik geflüchteten DDR-Bürger dürfen ausreisen. Die DDR feiert den 40. Jahrestag ihrer Gründung. Unmittelbar nach den Wahlen in Polen beginnt unser Vorbereitungsseminar für die Polenreise. Unser polnischer Reisebegleiter Marek Rzeszotarski kommt nach Wiesbaden, um die Reise vorzubereiten. Am 10. Oktober fahre ich mit einer Gruppe von 35 Lehrern durch die DDR wie durch eine Gefängnis in ein (im Grunde schon) freies Land, wo niemand mehr fürchten muss, verhaftet zu werden, weil er das Regime kritisiert. Während unseres Aufenthaltes in Polen wird Erich Honecker entmachtet; Egon Krenz wird sein Nachfolger. Vier Wochen später (9. Nov.) fällt die Mauer. Das Ende der DDR ist besiegelt. Ich verfolge die Ereignisse mit größter Aufmerksamkeit in der Presse und im Fernsehen und begrüße jeden Trabi, der mir begegnet, mit Hubzeichen. |
1990 |
Ich nutze im Mai die erste sich bietende Gelegenheit, um nun problemlos in die nun freie DDR zu fahren: mit der Frankfurter Sozialschule (FSS) ins Haus Hainstein in Eisenach zu einem Seminar über die DDR und die Situation nach dem Fall der Mauer.
Ich nehme ein Paket mit PZ–Programmen mit, die ich über den evangelischen Superintendenten und den katholischen Pfarrer von Eisenach, die als Leiter des „Runden Tisches“ als Referenten an dem Seminar der FSS teilnehmen, an die Schulleitungen und Lehrerkollegien verteilen lasse. Im Herbst treffe ich in München bei einer Tagung zum Thema „Religionsunterricht“ in den „Neuen Ländern“ Theo Steinhoff, den Leiter der Schulabteilung im bischöflichen Generalvikariat in Magdeburg, und einen Vertreter der dortigen Bezirksregierung (Herrn Bort) und bitte beide Herren, die mitgebrachten PZ-Programme an Schulleitungen weiterzugeben. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten: bald treffen die ersten Anmeldungen aus Thüringen und Sachsen-Anhalt ein. Eine der ersten kommt von Wilfried Lassak. Im Laufe der nächsten Jahre wächst die Gesamtzahl der Teilnehmer aus den beiden Bundesländern auf fast 300 an. Die Kosten werden schließlich (trotz mancher Widerstände im Verwaltungsrat) von den hessischen Bistümern übernommen. |
1991 |
Von seiten der Teilnehmer aus den neuen Bundesländern wird der Wunsch geäußert, Seminare „vor Ort“ durchzuführen. Ich komme diesem Wunsch gern nach (wenn auch wieder gegen manchen Widerstand aus dem Verwaltungsrat) und organisiere in den Jahren bis zu meiner Pensionierung im Jahre 2001 zahlreiche Seminare in Eisenach, Heiligenstadt, Uder, Halberstadt, Schierke, Bad Berka, Bad Saarow und Schmochtitz bei Bautzen. Im Wilhelm-Kempf-Haus in Naurod werden etliche Kollegen aus den neuen Bundesländern zu „Dauergästen“.
Eine besondere Rolle spielen dabei die mit Reiner Baumann, Lothar Hoffmann und Ursula Massoth durchgeführten Seminare zum Thema „Schule gemeinsam gestalten“ (teils in Hessen, teils in Thüringen, teils in Sachsen-Anhalt). Auf einer anderen Schiene laufen in Eisenach Seminare in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Sozialschule unter dem Thema „Die geistigen Grundlagen der Demokratie“. Aus diesen Seminaren entwickelt sich in Zusammenarbeit mit der neu organisierten Lehrerfortbildung in Thüringen ein Projekt „Nachqualifizierung von Sozialkundelehrern“. Mehrere Weiterbildungskurse ermöglichen Dutzenden von Kollegen den Erwerb der Unterrichtserlaubnis für das neu eingerichtete Fach Sozialkunde. Die Kurse finden teilweise in der Medizinischen Fachschule statt, wo mein Kollege Degmair und ich während der Ferien der Schwesternschülerinnen auch nächtigen dürfen. Dazu kommen etliche Reisen durch alle neuen Bundesländer „Auf der Straße der Romanik“, „Auf den Spuren der Zisterzienser“ und „Auf den Spuren der deutschen Klassiker“ (u.a. mit Theaterbesuchen in Weimar und Meiningen). |
2001 | Mit meiner Pensionierung werden diese Aktivitäten abrupt beendet, weil meine Nachfolgerin sie für überflüssig hält und mein Angebot, noch die eine oder andere Veranstaltung zu übernehmen, ablehnt. Gleichwohl gibt es einige unverbesserliche Kollegen aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hessen, die an das Projekt „Deutsche Einheit“ glauben und sich bis heute, 20 Jahre nach dem Mauerfall, regelmäßig einmal jährlich treffen – allen Unkenrufen zum Trotz!!! |
Dr. Siegfried Schröer
Der Ukraine-Konflikt und seine kirchengeschichtlichen Hintergründe
Teil I:
Überblick über die Geschichte der Kirche von der „Konstantinischen Wende“ bis zur Kirchenspaltung 1054
313 | „Mailänder Toleranzedikt“: Kaiser Konstantin gewährt den Christen volle Freiheit |
325 | Konzil von Nizäa: „Jesus Christus als Gottes Sohn dem Vater wesensgleich (Athanasius von Alexandrien), nicht nur wesensähnlich“ (Arius) |
330 | Kaiser Konstantin verlegt seine Residenz von Rom nach Byzanz (Konstantinopel) |
342/342 | 1. Schisma: Westliche Bischöfe erklären auf der Synode von Sardika (Sofia) den Bann über östliche Bischöfe und umgekehrt (im Streit über die Geltung des Konzils von Nizäa). |
353 | Synode von Arles verbannt auf Betreiben des Kaisers Konstantius II. Athanasius nach Trier |
354 | Synode von Mailand verurteilt Athanasius |
360 | In Rom wird das Griechische als Liturgiesprache durch das Lateinische ersetzt. |
380 | Kaiser Theodosius erklärt das Christentum zur Staatsreligion und bestimmt, dass alle Reichsuntertanen Christen sein sollen. |
391 | Alle heidnischen Kulte werden verboten. Ausgrenzung des Judentums |
431 | Konzil von Ephesus: „Maria ist Gottesmutter“ (Theotokos) / gegen Nestorius, den Pa- triarchen von Konstantinopel, gerichtet |
451 |
Konzil von Chalcedon: „In Jesus Christus eine Person in zwei Naturen, göttliche und
menschliche Natur ungetrennt und unvermischt“ / gegen den Monophysitismus / Ab-
Spaltung der Koptischen Kirche, der Armenischen Kirche und der Äthiopischen Kirche
(Autokephalien)
Betonung der Gleichwertigkeit der Bischofstühle von Rom und Konstantinopel |
476 | Ende des weströmischen Reiches: Odoaker setzt den letzten Kaiser Romulus Augustulus ab. |
484 | 1. wirkliches Schisma zwischen West- und Ostkirche (519 beigelegt): In Rom wird der Patriarch von Konstantinopel, Akakios, wegen Zweifeln am Konzil von Chalcedon exkommuniziert. |
494 | Papst Gelasius formuliert erstmals die „Zwei-Reiche-Lehre“ in einem Brief an Kaiser Anastasios I: „Die kaiserliche Gewalt bleibt der päpstlichen untergeordnet.“ |
529 | Zerstörung der heidnischen Tempel und Schließung der Akademie in Athen |
537 | Einweihung der Hagia Sophia in Konstantinopel / Zentralbau in Form des griechischen Kreuzes |
555 | Dekret des Kaisers Justinian, dass die Wahl des römischen Bischofs der Zustimmung des Kaisers bedarf („Cäsaropapismus“) |
710 | Papst Konstantin I. reist (vergeblich) nach Konstantinopel, um die anstehenden Probleme friedlich zu lösen (letzte Reise eines Papstes nach Konstantinopel bis 1967 / Reise Papst Paul VI.). Ende der byzantinischen Gefangenschaft Roms. Das Papsttum wendet sich verstärkt der fränkisch-germanischen Welt zu. |
726/730 | Bildersturm (Ikonoklasmus) unter Kaiser Leon III. |
787 | 2. Konzil von Nizäa: Bilderverehrung wird erlaubt. / Die Einheit zwischen Rom und Konstantinopel wird wieder hergestellt. |
867 | Synode von Konstantinopel: Schisma durch den Bannfluch des Patriarchen Photius gegen Papst Nikolaus I.u. a. wegen des Streits um das „filioque“ im 3. Glaubensartikel (…, der vom Vater und vom Sohne ausgeht). Hintergrund auch: Der „Wettlauf“ zwi-schen Ost- und Westkirche bei der Slawenmission. |
869/870 | 4. Konzil von Konstantinopel: Beseitigung des Schismas von 867 / letztes gemeinsames Konzil |
1054 | Trennung zwischen West- und Ostkirche: Dem päpstlichen Legaten Humbert von Silva-Candida wird in Konstantinopel vom dortigen Patriarchen, Michael Kerularius, untersagt, die Hl. Messe nach lateinischem Ritus zu feiern. Daraufhin legt Humbert die Exkommunikationsbulle auf den Altar der Haghia Sofia. Die Römisch-Katholische Kirche (West) und die Orthodoxe Kirche (Ost) bleiben bis heute getrennt. |
Der Ukraine-Konflikt und seine kirchengeschichtlichen Hintergründe
Teil II:
Von der Taufe Wladimirs von Kiew bis heute
988 | Der Großfürst Wladimir von Kiew (Nachfahr des vermutlichen Gründers des Reiches der Kiewer Rus, Rurik des Warägers – Wikinger – im 9. Jahrh.) lässt sich taufen und heiratet Anna, die Schwester des byzantinischen Kaisers / Gründung der Metropolie von Kiew unter dem byzantinischen Patriarchat |
1000 | Polen schließt sich dem lateinischen Kulturkreis an / Treffen des römischen Kaisers Otto III. mit dem Polenherzog Boleslaw Chobry / Errichtung des Erzbistums Gnesen durch Papst Silvester II. |
1054 | Trennung von Ost- und Westkirche / Römisch-Katholischer und Orthodoxer Kirche als Schlusspunkt einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung bzw. Entfremdung Die Metropolie von Kiew pflegt aber auch danach Verbindungen mit Rom, besonders unter den Metropoliten Roman (+ 1205) und Danylo (+1264). |
1240 | Einfall der Mongolen (Tataren) / Neue Machtzentren entstehen: Moskau im Norden; Galizien-Wolhynien im Westen; dieses hat weiterhin Beziehungen zu Rom. Die Metropolie wird von Kiew nach Wladimir nördlich von Moskau verlegt. |
1274 | Versuch einer Wiedervereinigung von Ost- und Westkirche auf dem II. Konzil von Lyon, der aber scheitert. |
1325 | Verlegung der Metropolie von Wladimir nach Moskau. Das veranlasst den Fürsten von Galizien-Wolhynien mit Zustimmung des Patriarchen von Konstantinopel zur Gründung einer Metropolie in Halic (Lemberg) |
14. Jahrh.: | Der größte Teil der Ukraine bzw. des ehem. Kiewer Reichs wird von Polen- Litauen erobert. Eine eigene Metropolie wird in Nowogrodek gegründet. Die Metropoliten nennen sich „Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus“ – wie die Metropoliten von Moskau. Der Süden bleibt unter der Herrschaft der „Goldenen Horde“ (Mongolen). |
1439 | Konzil von Florenz: Die Union zwischen Rom und der Metropolie von Kiew unter dem Metropoliten Isidor von Kiew (bis 1480 Verbindung mit Rom) wird von der Metropolie Moskau nicht akzeptiert: Unierte („griechisch-katholische“) Kirche kann ihre (“orthodoxe“) Liturgie und die Priesterehe beibehalten. (Gilt auch für weitere mit Rom unierte Kirchen im Osten.) |
1448 | Die Metropolie Kiew wird zweigeteilt. |
1453 | Die Türken erobern Konstantinopel. |
1589 | Der Patriarch von Konstantinopel gesteht dem Zaren ein eigenes Patriarchat Moskau zu („3. Rom“). |
1595/96 | Die ukrainisch-weißrussiche Kirche schließt mit Rom die Union von Brest. (Gilt auch für weitere mit Rom unierte Kirchen im Osten.) |
1620 | Mit Unterstützung der Kosaken wird die Metropolie Kiew erneuert. |
1648 | Mit Hilfe der Kosaken wird ein unabhängiger ukrainischer Staat gebildet, der sich aber bald unter das Protektorat Moskaus stellt. |
1667 | Teilung der Ukraine in einen östlichen Teil unter russischer Herrschaft und einen westlichen Teil unter polnisch-litauischer Herrschaft |
1685 | Die ukrainisch-orthodoxe Kirche im östlichen Teil wird dem Patriarchat Moskau zugeordnet. Im westlichen Teil breitet sich die mit Rom unierte Kirche aus. |
1764 | Aufhebung der Autonomie des russisch beherrschten Teils der Ukraine im Zuge der Westexpansion des Zarenreiches. |
1772/1795 | Auch der mittlere Teil der Ukraine fällt im Zuge der polnischen Teilungen an Russland. Die unierte Kirche wird dort aufgehoben. Der westliche Teil um Lemberg fällt an Österreich / Habsburg. |
1807 | Im habsburgischen Galizien wird die unierte Metropolie Lemberg erneuert. |
1917 | Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates (bis 1921), danach fallen der östliche und der mittlere Teil um Kiew an die Sowjetunion, der westliche Teil an Polen. |
1945 | Die ukrainisch-katholische Kirche wird von den Sowjets gewaltsam beseitigt; alle Bischöfe (u.a. der Erzbischof von Lemberg, Jozyf Slypyi) und ca. 1000 Priester werden verhaftet, die Union von Brest beseitigt. Die unierte Kirche überlebt im Untergrund und im Exil. |
1967 | Papst Paul VI. besucht den orthodoxen Patriarchen Athenagoras von Konstantinopel. (Bis heute steht eine – von Rom gewünschte – Einladung des Papstes durch den Patri- archen von Moskau aus.) |
1991 | Wiederherstellung der unierten Kirche und Wiedererrichtung des Erzbistums Lemberg |
2007 | Gegenseitige Anerkennung der Taufe zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche |
Krisenherde im Nahen Osten - Ursachen / Hintergründe
I. Irak / Syrien
19. Jahrh.: Zunehmende innere und äußere Schwäche des seit 1301 bestehenden Osmanischen Reiches: Verlust der meisten Provinzen auf dem Balkan / innere Konflikte / arabische Aufstände: "Der kranke Mann am Bosporus" 1908 jungtürkische Revolution / weitgehende Entmachtung des Sultans, die 1922 zum Ende des Sultanats und 1923 zur Bildung der (laizistischen) Republik unter Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) führt. Freundschaftliche Beziehungen zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem osmanischen Reich / deutsche Militärberater in Istanbul. 1914 Das Osmanische Reich tritt an der Seite der Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und (zunächst) Italien in den Ersten Weltkrieg ein. 1916 Geheimabkommen zwischen Großbritannien und Frankreich im Hinblick auf die zu erwartende Niederlage des Osmanischen Reiches (Sykes-Picot-Abkommen): Aufteilung der von Arabern und Kurden bewohnten Provinzen nach Einflusssphären und geostrategischen Inter- essen / Grenzziehungen ohne Rücksicht auf die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung und auf ethno-religiöse Gruppierungen (s. Karte) 1918 Niederlage der Mittelmächte (ohne Italien) und des Osmanischen Reiches 1919 Die siegreichen Entente-Mächte Großbritannien und Frankreich besetzen weite Teile des Osmanischen Reiches und teilen sie gemäß dem Sykes-Picot-Abkommen auf / beim Vertrag von Sevres (Paris) als Mandats- gebiete bestätigt und 1922 durch den Völkerbund ratifiziert / Bildung von abhängigen Königreichen: Irak (bestehend aus den ehem. Provinzen Bag- dad, Mossul und Basra) und Jordanien britisches Mandat, Syrien und Li- banon französisches Mandat / unabhängiges Königreich Saudi-Arabien / den Kurden wird trotz gegenteiliger Versprechungen kein eigener Staat zugestanden. 1920 Gründung des Völkerbundes (ohne die Mittelmächte) 1930 Irak und Syrien werden selbständige Republiken 1947 Gründung der arabisch-sozialistisch orientierten Baath-Partei ("Partei der arabischen Wiedergeburt") in Syrien, wo sie zur herrschende Macht wird /später auch im Irak aktiv 1958 Syrien und Ägypten bilden die "Vereinigte Arabische Republik" (bis 61) 1963 Die Baath-Partei übernimmt auch im Irak die Macht 1970 Der Alawit Hafiz al-Assad (Vater der heutigen Präsidenten) aus der Baath-Partei wird Alleinherrscher in Syrien / vom Iran unterstützt 1979 Der Sunnit Saddam Hussein aus der Baath-Partei wird Alleinherrscher im Irak 1980 - 1991 Kriege des Irak gegen Iran und Kuwait / Befreiung Kuwaits durch die USA, auch aus strategischen und wirtschaftlichen Interessen 1982 Niederschlagung eines Aufstandes der Muslimbrüder in Hama/Syrien (30 000 Tote, Zerstörung eines ganzen Stadtteils) 1988 Anfal-Operation gegen die Kurden im Irak (ca. 60 000 - 100 000 Tote) 2000 nach dem Tod von Hafiz al-Assad wird sein Sohn Baschar syrischer Präsident und Vorsitzender der Baath-Partei 2003 Einmarsch der USA in den Irak, weil Saddam Hussein angeblich über Massenvernichtungswaffen verfügt / Sturz und Tötung Saddam Husseins / danach Wahlen, aus denen schiitisch orienierte Parteien als Sieger hervorgehen / bürgerkriegsähnliche Zustände bei gleichzeitiger Präsenz amerikanischer Truppen (bis 2011) / Die sunnitische Bevölkerung sieht sich an den Rand gedrängt. / Der Staat ist instabil. Die Kurden streben einen eigenen Staat an, mindestens aber eine weitgehende Autonomie, die auch schon de facto besteht. Der Irak droht auseinanderzubrechen. 2011 Beginn des Aufstandes islamischer Gruppierungen gegen das alawitische Assad-Regime unter Baschar al-Assad: - islamische bzw. islamistische Gruppierungen: Dschihadisten, Muslim-Brüder, al-Qaida, Nusra-Front, sog. Islamischer Staat (IS), Nationale Befreiungsfront / Bürgerkrieg und Massenflucht 2014 Beginn der Eroberung weiter Teile des Irak durch den sogenannten "Isla- mischen Staat" (IS, zunächst ISIS), Ausrufung eines Kalifats, brutale Verfolgung "andersgläubiger" Muslime, von Christen und Jesiden / ab 2015 Zurückdrängung des sog. IS durch irakische bzw. kurdische Ein- heiten mit Unterstützung durch amerikanisch geführte Bombardierungs- aktionen 2015 Russland greift zugunsten des Assad-Regimes militärisch in den Konflikt ein und verfolgt damit auch geostrategische Interessen (Militärbasis am Mittelmeer) - Sunniten: Hauptrichtung des Islam (ca. 80 - 85 % der Muslime) / Name abge- leitet von Sunna (2. Quelle des Rechts neben dem Koran / darin Darstellung des "unveränderlichen Handlungsmusters Allahs und seines Propheten" sowie des vorbildlichen Lebens Mohammeds) - Schiiten: halten Ali, den Vetter und Schwiegersohn Mohammeds, den vierten Kalifen, für den rechtmäßigen ersten Kalifen (daher: Schiat-Ali, Partei des Ali)und nicht Abu Bakr, den ersten von Mohammed Bekehrten, vertreten also das Prinzip der Blutsverwandtschaft bei der Nachfolge Mohammeds (im Iran in der Mehrheit) - Alawiten: eine von maßgeblichen islamischen Richtungen (bes. Sunniten) nicht als islamisch anerkannte, den Schiiten nahestehende, eher liberale Rich- tung des Islam / vom sunnitisch beherrschten Saudi-Arabien abgelehnt In Syrien und im Irak herrscht(e) weitgehende Religionsfreiheit.
Sykes-Picot-Abkommen
Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 war eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, durch die deren koloniale Interessengebiete im Nahen Osten nach der erwarteten Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden. Das Abkommen war im November 1915 von den Diplomaten Mark Sykes (für Großbritannien) und Francois Georges-Picot (für Frankreich) ausgehandelt worden. Großbritannien wurde die Vorherrschaft über ein Gebiet zuerkannt, das insgesamt etwa dem heutigen Jordanien, dem heutigen Irak und dem Gebiet um Haifa (heute zu Israel) zusammen entspricht. Frankreich sollte die Herrschaft über Südost-Anatolien, das Gebiet um Mossul (im heutigen Irak), über das heutige Syrien und den heutigen Libanon übernehmen. Jede der beiden (Sieger-) Mächte konnte die Staatsgrenzen innerhalb seiner Einflusszone frei bestimmen. Das später Palästina genannte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordangraben sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden. Während den Arabern die Unterstützung Großbritanniens im Falle einer Revolte gegen das Osmanische Reich zugesagt und die Anerkennung einer anschließenden arabischen Unabhängigkeit in Aussicht gestellt worden war, teilten Frankreich und Großbritannien weite Teile des arabischen Territoriums unter sich auf. Das (Frankreich zugesprochene) Gebiet um Mossul sowie der größte Teil Syriens wurde kurz vor dem Ende des Krieges durch britische Truppen besetzt, was zu einem Konflikt mit Frankreich führte. Auf der Konferenz von San Remo im April 1920 und im Churchill-Weißbuch von 1922 wurden die wesentlichen Vereinbarungen des Sykes-Picot-Abkommens bestätigt und im Juli 1922 die Mandate durch den Völkerbund ratifiziert, nachdem ein Vergleich zwischen Großbritannien und Frankreich erzielt worden war: Großbritannien erhielt das Gebiet um Mossul und Frankreich wurde an den dortigen reichen Ölvorkommen beteiligt. Großbritannien erhielt zudem das Mandat für Palästina.
II. Israel / Palästina
19. Jahrh.: zunehmende antisemitische (antijüdische) Ressentiments und über- griffe in Europa, besonders in den von Russland beherrschten Teilen (Pogrome), führen zu einer ersten Phase jüdischer Einwanderung in das von Arabern be- wohnte "Palästina" / Landankauf und Ansiedlung dort (1. Alija ab 1870) / Entstehung der Zionistischen Bewegung (vom Berg "Zion" in Jerusalem abge- leiteter Begriff), Ziel ist u.a. eine "nationale Heimstätte für Juden" zu schaffen 1897 1. Zionistenkongress in Basel 1896 Der jüdische Journalist Theodor Herzl (1860 - 1904) verfasst das Buch "Der Judenstaat", in dem er konkrete Pläne für einen jüdischen National- staat vorlegt (in "Palästina" oder evtl. Ostafrika) 1901 Gründung des "Jüdischen Nationalfonds" zur Unterstützung der jüdischen Einwanderer in "Palästina" 1903 ein Pogrom in Kischniew im heutigen Moldawien (damals zu Russland gehörig) löst eine weitere Einwanderungswelle aus (2. Alija) 1917 Eroberung der osmanischen Provinz "Filistina" (Teil der Region Syrien/ von den Briten Palästina genannt) durch britische Truppen (General Allenby) Balfour-Deklaration: Großbritannien erklärt sich mit dem Ziel einver- standen, eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten. 1920 Gründung verschiedener jüdischer Organisationen zur Verfolgung dieses Ziels: militärisch: Palmach/Hagana, politisch: Mossad und Irgun (z.T. im Untergrund), sozialpolitisch: Histadrut (Gewerkschaft) 1920/21 Bei den Friedenverhandlungen in Sevres (Paris) wird Palästina als Mandatsgebiet Großbritannien zugesprochen (vom Völkerbund 1922 ratifiziert), nachdem dessen Grenzen gemäß dem Sykes-Picot-Abkom- men von 1917 festgelegt worden sind. 1921 erste arabische übergriffe auf jüdische Siedler in Palästina, aber keine ge- nerelle Ablehnung der jüdischen Einwanderung bei den Arabern ("Wir sind Brüder, sind auch Semiten.") 1933/45 Verstärkte jüdische Zuwanderung aufgrund der NS-Herrschaft und des Holocaust (hebr. Shoa) / Ermordung von ca. 6 Millionen Juden durch das NS-Regime 1945/46 Versuch Großbritanniens, die jüdische Zuwanderung nach Palästina zu begrenzen / Zurückweisung von Einwanderer-Schiffen 1947 Teilungsplan der UNO/ Staaten: Israel und Palästina / ca. 2 Millionen Einwohner insgesamt, davon ca. 500 000 Juden 1948 Nach Zustimmung zum Teilungsplan seitens der Juden und Ablehnung seitens der Araber ruft David Ben Gurion, der Führer der Juden in Paläs- tina, den Staat Israel aus. Daraufhin greifen die Araber zu den Waffen und es kommt zum ersten Palästina-Israel-Krieg, der durch einen von der UNO vermittelten und garantierten Waffenstillstand beendet wird. Israel verzeichnet einen deutlichen Landgewinn im Vergleich zum UNO- Teilungsplan. In einer großen Flüchtlingsbewegung fliehen Araber aus Israel in die Nachbarstaaten (vor allem Jordanien und Libanon) und Juden aus anderen Staaten im Nahen Osten nach Israel. 1956 Suez-Krise / Israel besetzt die zu ägypten gehörige Sinai-Halbinsel, muss sich aber auf britischen Druck bald wieder zurückziehen. 1967 Sechs-Tage-Krieg von arabischen Nachbarstaaten ausgelöst, von Israel gewonnen / Israel besetzt das Westjordanland und Ostjerusalem (bisher zu Jordanien), die Golanhöhen (bisher zu Syrien) und den Gaza-Streifen (bisher zu ägypten) 1972 Yassir Arafat als Führer der PLO (Palästinensische Befreiungsorgani- sation) von arabischer Gipfelkonferenz anerkannt 1973 Jom-Kippur-Krieg: nach überfall der Nachbarstaaten auf Israel erneuter Sieg Israels und endgültige Annexion Ostjerusalems und der Golanhöhen 1974/75 Rückzug Israels von der eroberten Sinai-Halbinsel 1979 Friedensvertrag zwischen Israel und ägypten 1982/85 Invasion Israels im Libanon (gegen die iranisch gesteuerte Hisbolla ge- richtet) 1987 "Antifada" (Palästinenser-Aufstand gegen Israel) / Arafat verlegt sein Hautquartier nach Tunesien 1989 Arafat wird vom Zentralrat der PLO zum Präsidenten des "Unabhängigen Staates Palästina" gewählt 1993 Oslo-Friedensprozess / Gegenseitige Anerkennung von Israel und PLO / Gaza-Jericho-Abkommen / Israel gibt den Gazastreifen und Teile des Westjordanlandes zur Selbstverwaltung durch die Palästinenser frei, bleibt aber Besatzungsmacht (Vermittlung durch die USA). 1994 Friedensnobelpreis für Yassir Arafat, Simon Peres (israelischer Präsident) und Jitzhak Rabin (israelischer Ministerpräsident) 1995 Ermordung Jitzhak Rabins durch einen israelischen Fanatiker / zunehmende Verhärtung der Fronten zwischen Israel und Palästina / National-konservative Parteien bekommen die Mehrheit in der Knesset (israelisches Parlament), nachdem die "Arbeits-Partei" lange die Regie- rung gestellt hatte. 2002 Israel beginnt mit dem Bau von Sperranlagen an den Grenzen zu den Palästinenser-Gebieten (bis 2010 fertiggestellt) 2005 Israel räumt den abgeriegelten Gaza-Streifen, während die Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem unangetastet bleiben und bis heute immer weitere dazu kommen.(s.Karte) Heute ist die Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne gerückt. Die Feindseligkeiten nehmen zu (Raketenangriffe seitens der - vom Iran gesteuerten und unter- stützten - Hamas, Bombardements auf Gaza durch Israel). Die USA unterstützen die Politik Israels gegenüber den Palästinensern (Verlegung der Botschaft nach Jerusalem u.a.)
Balfour-Deklaration
In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 erklärte sich Großbritannien einverstanden mit dem 1897 festgelegten Ziel der Zionistischen Weltbewegung, in Palästina (osmanisch: Filistina) eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten. Dabei sollten die Rechte bestehender nicht-jüdischer Gemeinschaften gewahrt bleiben. Die damalige britische Regierung unter Lloyd George versprach sich von der Zusage an die zionistische Bewegung Vorteile bei der Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen während des Krieges und langfristige strategische Vorteile (so die Unterstützung durch zionistische Organisationen in aller Welt in seinen Kriegsanstrengungen gegen die Mittelmächte, vor allem in den USA und in Russland). Ein diesbezüglicher Brief des damaligen britischen Außenministers Arthur James Balfour an Lionel Walter Baron Rothschild, einen prominenten britischen Zionisten, hatte folgenden Wortlaut: "Verehrter Lord Rothschild, ich bin sehr erfreut, Ihnen im Nahmen Seiner Majestät die folgende Erklärung der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen übermitteln zu können, die dem Kabinett vorgelegt und von ihm gebilligt worden ist: 'Die Regierung seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, mit der Maßgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.' Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Weltorganisation bringen würden.
Ihr ergebener Arthur Balfour"III. Der Jemen
Der Jemen ist heute eins der ärmsten Länder der Erde, ist vom Bürgerkrieg zerrissen, von einer Hungerkatastrophe größten Ausmaßes betroffen (zwei Drittel der Bevölkerung bei ca. 30 Mill. Einwohnern) und droht als Staat zu scheitern. Bis ins siebte Jahrhundert war das mit natürlichem Reichtum gesegnete Land ("Arabia felix" von den Römern genannt) von Stammesfürsten beherrscht. 661 Eroberung durch das sunnitisch-arabische Kalifat von Mekka 859 Machtübernahme durch die schiitische Zaiditen-Dynastie, ab 1296 Königreich 1517 Eroberung durch die Osmanen, ab 1538 bis 1630 Provinz des Osmani- schen Reiches, danach osmanisches Protektorat unter der Herrschaft eines zaiditischen Imams (geistlich und weltlich) 1839 Besetzung der Hafenstadt Aden (Südjemen) durch Großbritannien 1869 Bau des Suezkanals / Großbritannien beherrscht damit den verkürzten Schiffahrtsweg nach Indien (brit. Kolonie) 1905 Vereinbarung zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich Über den Grenzverlauf zwischen dem Nordjemen (osman.) und dem Südjemen um Aden (brit.) 1918 Ende des Osmanischen Reiches, Bildung einer zaiditischen Monarchie im Nordjemen unter britischem Einfluss, Konflikt mit Saudi-Arabien 1934 Krieg zwischen Jemen und Saudi-Arabien 1962 Sturz der Monarchie im Nordjemen, Gründung der Jemenitischen Arabi- schen Republik, Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Republikanern 1967 Ende des britischen Protektorats 1968 Ausrufung der Demokratischen Volksrepublik Jemen (Südjemen) 1990 Vereinigung der beiden Republiken 1993 freie Wahlen, der schon seit 1978 im Nordjemen (arab. Republik) regierende Salih wird Präsident im vereinigten Jemen 1994 erneuter Bürgerkrieg / Aufstand der schiitischen al-Huthi-Bewegung (unter iranischem Einfluss) 2011 sog. arabischer Frühling / Revolution m Jemen / Sturz des Präsidenten 2013 erneuter Bürgerkrieg 2015 saudi-arabische Offensive gegen al-Huthi-Rebellen, die den Norden bzw. Nordwesten um Sanaa und die lebenswichtige Hafenstadt Hudaida beherr- schen 2018 Waffenstillstand durch Vermittlung der UNO / nur bedingt wirksamIV. Kurden
Die Kurden sind eine hinsichtlich ihrer Abstammung schwer zu identifizierende Ethnie. Sie könnten von verschiedenen antiken Völkern im Östlichen Kleinasien abstammen. Die Kurden leben heute in vier Ländern: im Iran und in den aus Teilen des Osmanischen Reiches 1919 bzw. 1923 hervorgegangenen Ländern Türkei, Syrien und Irak. Die Volkszählungen schwanken zwischen 30 und 46 Millionen Kurden. Ca. 20 Millionen leben in der Türkei, ca. 11. Millionen im Iran, ca. 8 Millionen im Irak, ca. 2 Millionen in Syrien. Im 7. Jahrhundert Unterwerfung durch den sunnitisch-arabischen Kalifen Umar (Omar); Konversion zum Islam ab 1300 mehrheitlich zum Osmanischen Reich gehÖrig, eine Minderheit zu Persien (Iran) 1514 Schlacht bei Tschaldrian zwischen Osmanen und der persischen Safawiden-Dynastie / Der persische Shah Ismail I. unterliegt dem osmanischen Sultan Selim I. Die mehrheitlich sunnitischen Kurden verbünden sich mit den Osmanen. Ostanatolien kommt weitgehend unter osmanische Herrschaft, gegen die sich die Kurden später ohne Erfolg immer wieder auflehnen. 1919 Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im 1. Weltkrieg sieht der Vertrag von Sevres (bei Paris) für die Kurden einen eigenen Staat vor, der aber wegen des Widerstandes von türkischer Seite nicht realisiert wird. 1923 Vertrag von Lausanne, mit dem der Vertrag von Sevres revidiert wird und in dem der nun unter Atatürk geschaffenen Republik Türkei der größte Teil des kurdischen Siedlungsgebietes zugeschlagen wird. Atatürk erkennt die Kurden nicht als ethnische Minderheit an. Weitere Aufstände der Kurden werden jeweils niedergeschlagen. 1982 In der Verfassung der Türkei wird die kurdische Sprache verboten. 1984 Bewaffneter Kampf der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) unter Abdullah Öcalan in der Türkei. Zunehmende Repressionen gegen die Kurden. 1988 Niederschlagung eines Aufstands der Kurden im Irak / 180 000 Tote 1999 Verhaftung Öcalans (bis heute in Haft) 2013 Beginn eines Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK, der aber wieder ins Stocken geraten ist. 2014 Der sich ausweitende sogenannte "Islamische Staat" destabiliert Syrien und den Irak. Die kurdischen Peschmerga-Milizen tragen mit Hilfe der USA und der Nato wesentlich zur weitgehenden Entmachtung des sog. IS bei. Schon seit der Entmachtung Saddam Husseins wird den Kurden im Irak eine weitgehende Autonomie zugestanden. Die Türkei versucht seit- dem die Kurden in Nordsyrien unter ihre Kotrolle zu bringen, um eine Ausweitung der Autonomie der Kurden zu verhindern.
Das Ende des 1. Weltkrieges und der Vertrag von Versailles
Am Anfang sind sieben (Groß-)Mächte am Krieg beteiligt: Frankreich, Großbritannien, Russland, Italien auf der einen, Deutschland, Österreich Ungarn und das Osmanische Reich auf der anderen Seite. 6.4.1917 Eintritt der USA in den Weltkrieg (Kriegserklärung an die Mittelmächte) / 11 Mill. Dollar Kredite an die Verbündeten Frühjahr 1918: 2 Mill. amerikanische Soldaten im Krieg 8. 8.1918 Großoffensive der Alliierten / Wehrmacht auf dem Rückzug 13.8.1918 General Ludendorff äußert seine Einsicht, dass der Gegner nicht mehr zu besiegen sei (so gegenüber Harry Graf Kessler) 3.10.1918 Generalfeldmarschall von Hindenburg bittet den neu ernann- ten Reichskanzler Max von Baden, eine Note an Präsident Wilson zu schicken und diesen zu bitten, "die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen". 6.11.1918 Eine deutsche Delegation mit dem späteren Finanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) an der Spitze bricht zu Ver- handlungen über einen Waffenstillstand nach Frankreich auf. 8.11.1918 In Compiegne wird der Zug mit der deutschen Delegation an- gehalten und dieser eine Waffenstillstandserklärung zur Un- terschrift vorgelegt. Als Erzberger zögert zu unterschreiben, droht Frankreich (vor allem Generalfeldmarschall Foch), den Krieg fortzusetzen. 9.11.1918 In der Morgenfrühe unterzeichnet Erzberger die Erklärung. - Nachdem der Matrosen- und Soldatenaufstand (die Wei- gerung weiterzukämpfen) zu revolutionären Wirren geführt hat, ruft Philipp Scheidemann, der Fraktionsvorsitzende der SPD und spätere Ministerpräsident, am Vormittag die Repu- blik aus (vom Balkon des Reichstages), kurz darauf auch Karl Liebknecht von der Spartakusgruppe in der USPD (vom Bal- kon des Stadtschlosses). - Kaiser Wilhelm II. dankt ab und flieht vom Hauptquartier der OHL in Spa (Belgien) ins Exil in die Niederlande (Doorn). Friedrich Ebert (SPD) wird Reichskanzler. Mitte Nov. 1918 Eröffnung der Interalliierten Konferenz in Paris 18.1.1919 Offizielle Eröffnung der Friedenskonferenz der Siegermächte (also unter Ausschluss der besiegten Mittelmächte und ihrer Verbündeten) am Quai d'Orsay in Paris 19.1.1919 Reichstagswahlen 6.2.1919 Verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar 7.5.1919 übergabe der Friedensbedingungen an die deutsche Delega- tion unter der Führung von Außenminister Graf Brockdorff- Rantzau / Die Deutschen lehnen die Bedingungen ab. Juni 2019 Eine neue deutsche Delegation - unter der Leitung von Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrs- minister Johannes Bell (Zentrum) - reist auf ultimativen Druck seitens der Siegermächte nach Versailles. 28.6.2019 Unterzeichnung des Friedensvertrages durch die deutsche Delegation im Spiegelsaal von Versailles 11.8.1919 Inkrafttreten der Weimarer Verfassung 10.1.1920 Der Friedensvertrag tritt in Kraft. - Deutschland wird be- schuldigt, für den Krieg verantwortlich zu sein und soll für die Kriegsschäden aufkommen. Im Vertrag ist keine end- gültige Reparationssumme genannt, da sich die Alliierten nicht auf eine Summe einigen konnten. Die Forderungen bewegten sich zwischen 64 und 220 Milliarden Goldmark. In der Folgezeit verhandeln Außenminister Walther Rathe- nau (DDP) und Finanzminister Matthias Erzberger mit den Alliierten wegen einer realistischen Reparationsleistung, die schließlich 1921 auf 132 Milliarden festgelegt wird. - Deutschland hat 43.000 qkm (ein Siebtel) seines Staatsgebietes mit 6,5 Millionen Einwohnern abzutreten. Es verliert dadurch die Hälfte der Eisenerzvorkommen, ein Drittel der Kohlevor- kommen und muss fast die gesamte Handelsflotte und 11% des Rinderbestandes abtreten. Pro Jahr sind 40 Millionen Tonnen Kohle an Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien abzuliefern. Mitte 1920 Der neue französische Ministerpräsident Aristide Briand und der dt. Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) betrei- ben "eine Politik des freundlichen Ausgleichs" (erhalten 1926 den Friedensnobelpreis) 26.8.1921 Matthias Erzberger durch Rechtsradikale ermordet. 24.6.1922 Walter Rathenau durch Rechtsradikale ermordet. 1923 Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen wegen schleppender Reparationsleistungen 9.11.1923 Putschversuch der NSDAP unter Hitler gescheitert 20.11.1923 Die Hyperinflation ("Papiermark") wird durch Reichskanzler Stresemann mit der Einführung der Rentenmark beendet: 1 Billion (1 000 000 000 000) Goldmark / Papiermark = 1 Rentenmark / seit 1924 zusätzliche Einführung der Reichsmark 1926 Deutschland wird in den schon 1919 auf Betreiben von Präsi- dent Wilson gegründeten Völkerbund aufgenommen. Dr. Siegfried Schröer, StD. i.R. / www.schroeer-ebe.de
Christen und Juden
Die Trennung der christlichen Gemeinde vom Judentum in der Zeit der Urkirche und eine erneute Annäherung heute - nach der ShoaProlog
"Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind." Dieser geradezu unglaubliche Satz des Apostels Paulus steht am Anfang des neunten Kapitels des Briefs an die Römer. Zwei deutschsprachige jüdische Dichter, Franz Werfel (1883-1945) und Alfred Döblin (1878-1957), die beide vor dem NS-Staat in die USA geflohen sind, empfinden die Trennung der christlichen Gemeinde/Kirche vom Judentum/Volk Israel ähnlich wie Paulus. Während Franz Werfel sehr mit dem katholischen Glauben sympathisiert, aber den letzten Schritt zur Konversion nicht geht, konvertiert Alfred Döblin im Exil zur katholischen Kirche, was ihm den bitterbösen Spott von Bert Brecht (1898-1956) einbringt. Franz Werfel nennt die Trennung eine Tragödie. Er schreibt dazu in den zwanziger Jahren ein Drama, das drei Teile umfassen sollte, das aber nur im ersten Teil ("Paulus unter den Juden") realisiert worden ist (1926) und nur wenig Resonanz gefunden hat. Er musste es in seiner intellektuellen Umgebung gegen seine eigene Überzeugung als psychologisches Drama ausgeben, das nicht als religiös im Sinne einer Konfession oder Glaubensrichtung zu verstehen sei.
In dem Drama steht neben Paulus dessen Lehrer Gamaliel im Mittelpunkt, der seinen Schüler für den Glauben Israels - für die Thora - zurückgewinnen möchte, der aber andererseits Paulus davon abrät, Stephanus steinigen zu lassen. Paulus wiederum trauert Gamaliel als der "untergehenden Sonne Israels" nach, während Jesus von Nazareth als die neue Sonne über den Völkern aufgeht.
1. Kap. Gamaliel
Dieser Gamaliel spielt in der Apostelgeschichte eine bemerkenswerte Rolle, als sich der Konflikt zwischen den Aposteln und dem Hohen Rat zuspitzt (Apg 5): Nachdem die Apostel wegen der Zeichen und Wunder, die sie wirkten, vom Hohenpriester und den Sadduzäern (der Priesterklasse) aus Eifersucht ins Gefängnis geworfen, dann aber von einem Engel des Herrn befreit worden waren und wiederum im Tempel predigten, "ging der Tempelhauptmann mit seinen Leuten hin und holte sie, allerdings nicht mit Gewalt, denn sie fürchteten vom Volk gesteinigt zu werden. Man führte sie herbei und stellte sie vor den Hohen Rat. Der Hohepriester verhörte sie und sagte: Wir haben euch streng verboten, in diesem Namen (Jesus) zu lehren; ihr aber habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt; ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ans Holz gehängt und ermordet habt. Ihn hat Gott als Herrscher und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken. Zeugen dieser Ereignisse sind wir und der Heilige Geist, den Gott allen verliehen hat, die ihm gehorchen. Als sie das hörten, gerieten sie in Zorn und beschlossen, sie zu töten. Da erhob sich im Hohen Rat ein Pharisäer namens Gamaliel, ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer; er ließ die Apostel für kurze Zeit hinausführen. Dann sagte er: Israeliten, überlegt euch gut, was ihr mit diesen Leuten tun wollt. Vor einiger Zeit nämlich trat Theudas auf und behauptete, er sei etwas Besonderes. Ihm schlossen sich etwa 400 Männer an. Aber er wurde getötet, und sein ganzer Anhang wurde zerstreut und aufgerieben. Nach ihm trat in den Tagen der Volkszählung Judas, der Galiläer auf; er brachte viel Volk hinter sich und verleitete es zum Aufruhr. Auch er kam um, und alle seine Anhänger wurden zerstreut. Darum rate ich euch jetzt: Lasst von diesen Männern ab und gebt sie frei; denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten; sonst werdet ihr noch als Kämpfer gegen Gott dastehen. Sie stimmten ihm zu, riefen die Apostel herein und ließen sie auspeitschen; dann verboten sie ihnen, im Namen Jesu zu predigen und ließen sie frei. Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden. Und Tag für Tag lehrten sie unermüdlich im Tempel und in den Häusern und verkündeten das Evangelium von Jesus, dem Christus." (Apg 5,26-42)Hier zeigt sich, dass es sich (noch) um einen innerjüdischen Konflikt handelt, in dem es verschiedene Stimmen und Gruppierungen gibt, dass immer wieder "Messias-Prätendenten" auftauchen, aber auch die führenden Männer um ihre Macht bzw. ihren Einfluss im Volk fürchten. Andererseits zählen sich die Apostel nach wie vor zum Volk Israel, das sie zu Jesus, dem Christus führen wollen. Deutlich wird hier auch, dass etliche Mitglieder des Hohen nicht von ungefähr in Jesus einen weiteren selbsternannten Messias vermuten, gegen den sie wegen Gotteslästerung zu recht meinen vorgehen zu müssen.
2. Kap. Stephanus
Die Ermordung des Stephanus, an der Paulus (Saulus) maßgeblich beteiligt ist (Apg 7,58 und 8,1a), deutet auf eine zunehmende Entfremdung zwischen der Jesus-Gemeinde und der (den) Synagogen-Gemeinde(n) - u.a. hellenistischen - hin. Stephanus verteidigt sich vor dem Hohen Rat, den er noch mit "Brüder und Väter" anredet, mit seiner großen heilsgeschichtlichen Rede (Apg 7,1-53), aber seine Anklage gegen den Hohen Rat bringt diesen heftig gegen ihn auf: "Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure (!) Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, ihr, die ihr durch die Anordnung von Engeln das Gesetz empfangen, es aber nicht gehalten habt." (Apg 7,51-53) Seine vor dem Hohen Rat ausgesprochene Vision vom Menschensohn (Apg 7,57-60) bringt "das Fass zu Überlaufen" und führt direkt zu seiner Steinigung und zu einer anschließenden "schweren Verfolgung und versuchten Vernichtung der Kirche in Jerusalem durch Paulus (Saulus) und zur Zerstreuung der Gläubigen in Judäa und zur Flucht nach Samarien "(Apg 8,1b-3). Viele fliehen dann auch nach Syrien, wo Antiochia zu einem neuen Zentrum der Jesusgemeinde wird und zum Ausgangspunkt der Heidenmission (s.u.).3. Kap. Paulus
Nach seiner Bekehrung (Apg 9,1-19) beginnt Paulus (Saulus) unverzüglich mit der Verkündigung des Evangeliums von Jesus ("Er ist der Sohn Gottes.") und bringt die Juden in Damaskus dadurch in große Verwirrung und sie beschließen nach einiger Zeit, ihn zu töten. (Apg 9,23) In Jerusalem, wo er inzwischen "bei den Aposteln ein und ausgeht", führt er Streitgespräche mit den Hellenisten, die ebenfalls planen, ihn zu töten (Apg 9, 28.29). Offensichtlich handelt es noch um Minderheiten, während die Zahl der zu Jesus bekehrten Juden weiter zunimmt. (Apg 9,31 / 11, 21.24 / 12,24) Die Bedrohung, der Paulus ausgesetzt ist, veranlasst "die Brüder", ihn in seine Heimat Tarsus zu schicken, während sich in Antiochia in Syrien eine neue Gemeinde (aus vertriebenen Jüngern) etabliert, wo "auch den Griechen das Evangelium von Jesus verkündet wird und die Jünger zum ersten Mal Christen genannt werden." (Apg 11,20. 26) Barnabas aus Zypern, "ein trefflicher Mann, erfüllt vom Heiligen Geist und von Glauben" holt Paulus (Saulus) aus Tarsus nach Antiochia und sie verkündigen gemeinsam das Evangelium. "Am folgenden Sabbat versammelte sich die ganze Stadt, um das Wort des Herrn zu hören. Als die Juden die Scharen sahen, wurden sie eifersüchtig, widersprachen den Worten des Paulus und stießen Lästerungen aus. Paulus und Barnabas aber erklärten freimütig: Euch musste zuerst das Wort verkündet werden. Da ihr es aber zurückstoßt und euch des ewigen Lebens unwürdig zeigt, wenden wir uns jetzt an die Heiden. Denn so hat uns der Herr aufgetragen: Ich habe dich zum Licht für die Völker gemacht, bis an das Ende der Erde sollst du das Heil sein. (Jes 47,6;49,6) Als die Heiden das hörten, freuten sie sich und priesen das Wort des Herrn, und alle wurden gläubig, die für das ewige Leben bestimmt waren. Das Wort des Herrn aber verbreitete sich in der ganzen Gegend. Die Juden jedoch hetzten die vornehmen gottesfürchtigen Frauen und die Ersten der Stadt auf, veranlassten eine Verfolgung gegen Paulus und Barnabas und vertrieben sie aus ihrem Gebiet." (Apg 13,44-50) Paulus und Barnabas aber zogen nach Ikonium und Lystra, wurden aber weiter verfolgt: "Aus Antiochia und Ikonium aber kamen Juden und überredeten die Volksmenge, und sie steinigten den Paulus und schleiften ihn zur Stadt hinaus, in der Meinung, er sei tot. Als die Jünger ihn umringten, stand er auf und ging in die Stadt." (Apg 14, 19.20) Damit ist die Spaltung zwischen Juden und Christen unübersehbar geworden. Sie findet dann gewissermaßen ihre Bestätigung durch das sogenannte Apostelkonzil in Jerusalem (49/50), bei dem die Streifrage geklärt wird, ob Heiden durch die Beschneidung zunächst Juden werden müssen, bevor sie durch die Taufe zu Christen werden können. Die Entscheidung ist eindeutig. Sie müssen es nicht. (Apg 15,1-29). So wird es mit aller Entschiedenheit durch Paulus und alle Apostel verkündet. Da die Juden an der Beschneidung festhalten, ist damit auch rituell die Trennung bzw. Spaltung vollzogen, deren eigentlicher Kern aber bleibt die Verehrung Jesu von Nazareth als Gottessohn und sein Selbstzeugnis, wie es vor allem im Johannesevangelium verkündet wird (u.a. in den "Ich-bin-Sätzen", Kap. 6;8;10;11;14;15) - Dieser Ablösungsprozess vollzieht sich allmählich in einem Zeitraum von ca. 60 Jahren, vergleichbar mit den späteren Spaltungen in der christlichen Kirche.Einen deutlichen Trennungsstrich zwischen Christen und Juden hat Paulus dann im Galaterbrief (um 50 geschrieben) gezogen - nicht zuletzt mit der allegorischen Auslegung der Geschichte von Sarah und Hagar (Kap. 4,21-26 und 31): "In der Schrift wird gesagt, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin, den anderen von der Freien. Der Sohn der Sklavin wurde auf natürliche Weise gezeugt, der Sohn der Freien aufgrund der Verheißung. Darin liegt ein tieferer Sinn: Diese Frauen bedeuten die beiden Testamente. Das eine Testament stammt vom Berg Sinai und bringt Sklaven zur Welt; das ist Hagar - denn Hagar ist die Bezeichnung für den Berg Sinai in Arabien -, und ihr entspricht das gegenwärtige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt. Das himmlische Jerusalem aber ist frei, und dieses Jerusalem ist unsere Mutter. ... Daraus folgt also, das wir nicht Kinder der Sklavin sind, sondern Kinder der Freien." - Und im Kap. 5 wendet sic Paulus direkt an die Galater, die meinen, sich an das Gesetz, u.a. die Beschneidung halten zu müssen: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. ... Lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen! ...Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. ...Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun."
Für Paulus ist damit aber nicht das letzte Wort gesprochen, wie er besonders in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes (geschrieben um 58) ausführt (s.u.).
4. Kap. Das "Ölbaum-Gleichnis"
In den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs (um 58 geschrieben) geht sein ganzes Bemühen dahin, aufzuweisen, dass Israel nicht von Gott auf immer verstoßen ist und er den Bund mit seinem Volk nicht aufgekündigt hat. Wie sehr er unter der Trennung leidet, wird an seiner Äußerung deutlich, dass auf er auf sein ewiges Heil verzichten würde, wenn dadurch sein Volk gerettet würde: "Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Sie sind Israeliten, damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz (die Thora) gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Röm 9,1-5)"Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin. Gott hat sein Volk nicht vertoßen (Ps 94,14) - dort heißt es allerdings; er wird sein Volk nicht verstoßen), das er einst erwählt hat. Röm 11,1-2) ... Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen? Keineswegs! Vielmehr kam durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden, um sie selbst eifersüchtig zu machen. Wenn aber schon durch ihr Versagen und durch ihr Verschulden die Heiden reich werden, dann wird das erst recht geschehen, wenn ganz Israel zum Glauben kommt." (Röm 11,11-12) (Hintergrund dieser Aussage ist der Verweis auf die Elia-Geschichte, dass siebentausend Männer übriggeblieben sind, die ihr Knie nicht vor Baal gebeugt haben und Jahwe die Treue gehalten haben - der sogenannte "Rest, der aus Gnade erwählt ist".)
"Euch, den Heiden sage ich: Gerade als Apostel der Heiden preise ich meinen Dienst, weil ich hoffe, die Angehörigen meines Volkes eifersüchtig zu machen und wenigsten einige von ihnen zu retten." (Röm 11, 13) ... "Wenn die Wurzel heilig ist, so sind es auch die Zweige, Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erbebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Nun wirst du sagen: Die Zweige wurden doch herausgebrochen, damit ich eingepfropft werde. Gewiss, sie wurden herausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Du aber stehst an ihrer Stelle, weil du glaubst. Sei daher nicht überheblich, sondern fürchte dich! Hat Gott die Zweige, die von Natur zum edlen Ölbaum gehören, nicht verschont, so wird er auch dich nicht verschonen.
Erkenne die Güte Gottes und seine Strenge! Die Strenge gegen jene, die gefallen sind, Gottes Güte aber gegen dich, sofern du in seiner Güte bleibst; sonst wirst auch du herausgehauen werden. Ebenso werden jene, wenn sie nicht am Unglauben festhalten, wieder eingepfropft werden; denn Gott hat die Macht, sie wieder einzupfropfen. Wenn du aus dem von Natur wildem Ölbaum herausgehauen und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, dann werden erst recht sie als die von Natur zugehörigen Zweige ihrem eigenen Ölbaum wieder eingepfropft werden." (Röm 11,16-24)
5. Kap. "Ghetto" und "Shoa"
Gleichwohl schreitet die Trennung voran und vollzieht sich auch äußerlich. Die Judenchristen beteiligen sich 70 n.Ch. nicht am jüdischen Aufstand und fliehen aus Jerusalem und Judäa nach Pella im Norden Palästinas. Nach dem Krieg und der Zerstörung des Tempels durch den Heerführer Titus, den späteren Kaiser, werden viele Juden in weite Teile des Mittelmeerraums verstreut und nach dem Bar-Kochba-Aufstand 130 alle Juden aus der römischen Provinz Judaia verbannt. Bis zur Beendigung der Christenverfolgung 313 werden Christen und Juden im römischen Reich als jüdische Sekten angesehen, die ständig wachsende Zahl der Christen immer wieder heftig verfolgt, während die Juden als eher unbedeutende Sekte weitgehend unbehelligt bleiben. Als aber das Christentum nach der sogenannten konstantinischen Wende einen großen Zulauf erfährt und nach und nach als politische Macht im römische Reich aufsteigt und im 6. Jahrhundert zur allein anerkannten Religion wird, gerät die jüdische Bevölkerung immer mehr an den Rand der Gesellschaft, zumal die meisten unbeirrt am Verdikt über Jesus von Nazareth festhalten, so zu lesen etwa im Talmud (der nachbiblischen Sammlung jüdischen geistlichen Schrifttums): "Er (Jesus) wurde gesteinigt und schließlich als falscher Prophet gehängt, weil er Israel zum Götzendienst verführt und sich als Messias ausgegeben hat." (Traktat Sanhedrin 43a / (Vgl. Mt 26,65) Entsprechend werden die Juden von der christlichen Mehrheitsgesellschaft als Volk der Christus-Mörder gebrandmarkt, zum Sündenbock für alles und jedes gemacht, in Ghettos eingesperrt oder des Landes verwiesen und schließlich in Pogromen blutig verfolgt. An diesen mehr oder weniger latenten, aber auch immer wieder offen zu tage tretenden Antisemitismus, der auch den religiösen Antijudaismus mit einschließt, kann der NS-Staat anknüpfen mit seiner Judenverfolgung und der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" in den Konzentrations- und Vernichtungslagern.Die von NS-Deutschland geplante und schon in Gang gesetzte totale Vernichtung des jüdischen Volkes erfolgt neben den Konzentrationslagern auf polnischem Boden, vor allem in Auschwitz, aber auch in Ghettos wie in Warschau. Der jüdische Autor Zwi Kolitz (*1919 in Litauen, + 2002 in New York) hat 1946 einen Text verfasst, in dem er sich in die Seele des jüdischen Widerstandskämpfers Jossel Rakover im Warschauer Ghetto versetzt und mit Gott hadern lässt wie Hiob, aber noch eindringlicher und radikaler und damit das eigentliche Ausmaß der Vernichtung zur Sprache bringt:
"Ich glaube an den Gott Israels, wenn Er auch alles getan hat, dass ich nicht an ihn glauben soll. Ich glaube an Seine Gesetze (eigentlich die Tora), auch wenn ich seine Taten nicht rechtfertigen kann. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm nicht mehr die eines Knechtes zu seinem Herrn, sondern wie die eines Schülers zu seinem Lehrer. Ich beuge mein Haupt vor seiner Größe, aber ich werde die Rute nicht küssen, mit der er mich schlägt. Ich habe ihn lieb. Doch seine Tora habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in Ihm getäuscht hätte, Seine Tora werde ich weiter hüten. Gott heißt Religion. Seine Tora aber bedeutet Lebensweise! Und je mehr wir sterben für diese Lebensweisung, so unsterblicher wird sie.
Darum erlaube mir, Gott, vor meinem Tod, völlig frei von jeder Angst, ohne den geringsten Schrecken, in einer Lage absoluter Ruhe und Sicherheit, Dich zur Rede zu stellen, ein letztes Mal in meinem Leben.
Du sagst, dass wir gesündigt haben? Aber natürlich! Und dafür werden wir bestraft? Auch das kann ich verstehen. Ich will aber, das Du mir sagst, ob es eine Sünde auf der Welt gibt, die eine solche Strafe verdienst, wie wir sie bekommen haben! ... Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alle getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich immer gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.
Gelobt soll sein auf ewig der Gott der Toten, der Gott der Vergeltung, der Wahrheit und des Gerichts, der bald sein Gesicht wieder vor der Welt enthüllen wird und mit seiner allmächtigen Stimme ihre Fundamente erschüttert.
"Schma Israel! Höre, Israel! Der Herr unser Gott, der Herr ist Einer! In Deine Hände, o Herr, empfehle ich meinen Geist."
6. Kap. "Ich bin Josef, euer Bruder". (1) (Johannes XXIII.)
Wie aber sollen Juden zum Glauben (an Jesus, den Christus) kommen, nachdem Christen, nicht zuletzt "Deutsche Christen", sie jahrhundertelang verachtet, diskriminiert, schikaniert, gefoltert und aufs grausamste Weise umgebracht, ja versucht haben, das ganze jüdische Volk zu vernichten (durch die Shoa, was Vernichtung bedeutet)? Wie aber können wir Christen nach diesem Menschheitsverbrechen zur Tagesordnung übergehen, ohne uns zu "bekehren" und mit einem anderen Blick auf die Juden zu sehen? Nach der Shoa ist es an der Zeit, dass wir Christen in bezug auf die Juden umdenken und eine Theologie (besonders eine Christologie) "nach Auschwitz" entwickeln, bevor wir weiterhin Jesus von Nazareth in / mit seinem Volk kreuzigen (und sei es diskriminieren) und unser eigenes Heil über das Heil seines (nach wie vor auserwählten) Volkes setzen. Nur auf dem Weg mit Jesus in seiner gelebten Nachfolge können wir beitragen zur endgültigen Rettung seines Volkes.Der erste Schritt ist oder kann sein, zu akzeptieren, dass "der Glaube Jesu uns einigt, der Glaube an Jesus uns aber trennt." (so Schalom Ben- Chorin , * 1913 in München, jüdischer Religionswissenschaftler) in: "Bruder Jesus, der Nazarener in jüdischer Sicht", München 1977
Gleichwohl gibt es inzwischen auch zahlreiche christliche Theologen (inkl. des kath. Lehramts), die es für die Verständigung als unabdingbar ansehen, Jesus zuerst entschiedener auf dem Weg seines Glaubens zu folgen, d.h. vor allem ihm in seinem vorbehaltlosen Vertrauen auf Gott, wie er als Jahwe, als Gott der Väter in der Tora erscheint, zu folgen. Das II. Vatikanische Konzil formuliert es wie folgt: "Deshalb kann die Kirche nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbaren Erbarmen den Alten Bund zu schließen sich gewürdigt hat, die Offenbarung des Alten Testaments empfing und von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als Wildlinge eingepfropft sind, genährt wird. Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels vor Augen, der von seinen Stammesverwandten sagt, dass 'ihnen die Annahme an Sohnes Statt und Glorie und Bund und das Gesetz (die Thora), der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter, und dass aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt ' (Röm 9,4-5), der Sohn der Jungfrau Maria. Auch hält sie sich gegenwärtig, dass aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten der ersten Jünger, die das Evangelium Christi in der Welt verkündet haben. Wie die Schrift bezeugt, hat Jerusalem die Zeit der Heimsuchung nicht erkannt (Lk 19,44), und ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen, ja nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt. Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis des Apostels immer noch Gottes Lieblinge um der Väter willen, sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich. ... Da also das Christen und Juden gemeinsame gleiche Erbe so reich ist, will die heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist. Obwohl die jüdische Obrigkeit mit ihren Anhängern auf den Tod Jesu gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied, noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als ob dies aus der Schrift zu folgern sei. Darum sollen alle dafür Sorge tragen, dass niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehren, was mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht. ... Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche ... mit Entschiedenheit alle Hassausbrüche und Verfolgungen, alle Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgend einer Zeit und von irgend jemand gegen die Juden gerichtet haben." (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zur jüdischen Religion, 1966)
(1) Papst Johannes XXIII. (1958-1963) bei der Begegnung mit Juden in der Großen Synagoge in Rom.
Dr. Siegfried Schröer